Hinter Julia Pankratyeva türmen sich unsanierte Betonklötze gen Himmel. So sieht Gropiusstadt aus, 50 Jahre nach dem ersten Spatenstich. Vielen ist der Anblick der riesigen Blöcke, die 35.000 Menschen im Süden Neuköllns unterbringen, auch jetzt noch nicht ganz geheuer. Die meisten Bewohner des Viertels hegen gegenüber diesem Pflaster aber ganz andere Gefühle. Julia Pankratyeva mochte die Gegend vom ersten Tag an.In Kirowograd, wo sie vorher wohnte, ähneln die Wohntürme denen des Bauhausviertels sehr. Die Ukrainerin mag besonders die ganzen Pflanzen hier und die singenden Vögel in den Bäumen.
Die Gropiusstadt durchlief seit 2002 mehr Veränderungen als in den 40 davor. Kinderreiche Einwanderer-Familien bringen Schwung in den Alltag des Viertels und sorgen zusammen mit den oft allein wohnenden, älteren Langzeitmietern für einen Ausgleich der Altersstruktur. Auf dem Bat-Yam-Platz vor dem Gemeinschaftshaus spazieren gegen 12 Uhr die Rentnerpärchen entlang, nach Schulschluss tummeln sich hier viele Kinder und Jugendliche.
Gemeinschaftshaus für alle
Das Gemeinschaftshaus bietet allen Jahrgängen verschiedene Freizeitangebote, von der Keramikwerkstatt bis zum Kochkurs. Pankratyeva leitet den Interkulturellen Treffpunkt und plant Sing- und Tanzabende. Zu Beginn war es nicht leicht, die Menschen aus Russland, Kurdistan, Indonesien, Moldawien und Deutschland zusammenzubringen, sagt die 55-Jährige. Aber mit einiger Ausdauer gewann sie durch ihr warmherziges Werben die Leute für den Treff.
Peter Geue wohnt seit 43 Jahren in Neuköllns Süden. Der gelernte Nachrichtentechniker findet, dass es in der Gropiusstadt meist ein paar Grad kühler war als an seiner früheren Arbeitstelle in Tempelhof. „Luft, Wasser, nach zehn Minuten Spaziergang ist man im Grünen – der Freizeitwert ist hoch“. Die vielen Familien aus arabischen und asiatischen Ländern sind für Geue ein Vorzug der Gegend, auch wenn manche ethnische Gruppen in seinen Augen sehr abgegrenzt leben.
Die Stadt bei Tag und Nacht
Das verrufene Bild der Gropiusstadt, heraufbeschworen aus dem Buch von Christiane F., die hier ihre Jugend verbrachte, wirke bis heute nach. Auch die Selbstmorde vom Dach des Ideal-Hochhauses, dem höchsten Wohnhaus Berlins, kämen immer wieder als Negativargument zur Sprache. Mit der Wirklichkeit habe das alles nichts gemein. „Meine Frau und ich gehen zu allen Tag- und Nachtzeiten raus. Wir sind nie belästigt worden.“
„In Gropiusstadt ist die Kriminalitätsrate niedriger als in den coolen Vierteln wie Kreuzberg oder Friedrichshain“, meint Jörg Stollmann, Architekturprofessor an der Technischen Universität. Aber trotzdem existieren sogenannte „Angsträume“ in nächtlichen Grünanlagen. „Wir müssen es schaffen, dass es mehr Leben und Licht gibt.“ Stollmann hat mit seinen Studenten die städtebauliche Struktur untersucht und Ideen erarbeitet, um das Viertel in Zukunft ein Stück näher an das Idealbild Gropius‘ von der sozialen Stadt heranzuführen.
Luftschlösser und Wolkenkratzer
So wäre es möglich, sogenannte Coworking-Büros auszuprobieren, in denen Leute auch nachts arbeiten. Der Professor denkt dabei schon an das Jahr 2020. Dann kommt die Internationale Bauausstellung nach Berlin. Bis dahin wäre eine Umwandlung der Gropiusstadt in ein städtebauliches Vorzeigeprojekt möglich. „Wir sagen, was alles möglich ist. Ob es dann auch umgesetzt wird, ist Sache der Politik und der Gesellschaft.“
Handfester scheint der Ansatz der degewo, die 4500 Wohnungen im Viertel besitzt. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft hat vor, 400 neue Wohneinheiten zu errichten und den Bestand zu sanieren. Bis 2016 plant die Gesellschaft für die energetische Sanierung und die Verbesserung des Umfeldes 100 Millionen Euro ein. So was wagt nur, wer an die Zukunft glaubt.
Gropiusstadt ist die älteste Berliner Trabantensiedlung. Baubeginn war 1962. Aber es war nicht immer leicht für das Stadtviertel. Erst 1975 konnten die Arbeiten abgeschlossen werden, nachdem der Mauerbau die komplette Planung eingeschränkt hatte, aber schon in den Siebzigern begannen die sozialen Probleme. Nach der Wende wurden Leerstand und Verwahrlosung immer mehr zum Problem. Im neuen Jahrtausend arbeiteten die beteiligten Wohnungsbaugesellschaften und der Bezirk verstärkt an einer neuen Lösung. 2005 entstand ein präventives Quartiersmanagement, drei Jahre später schlossen sich Kitas und Schulen zu einem Bildungsverbund zusammen. Inzwischen kommen wieder Mittelstandsfamilien hierher und durchmischen die sozialen Strukturen.