Mehringdamm - Der Zeitpunkt hätte passender nicht sein können: Ausgerechnet einen Tag, nachdem Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen hat, starten Travestiekünstler Ades Zabel und seine Company mit "Hostel Hermannstraße" in die neue Theatersaison. Die volle Packung Glitzer-Glitzer, angereichert mit ordentlich Haudegen-Transencharme, gab's auf der Bühne, aber auch im Publikum – Conchita-Double mit Make-up und Vollbart inklusive. Ein Premierenbesuch…
Es ist das gleiche Phänomen, wie wenn im Kino einer auf der Leinwand raucht: So man denn Raucher ist, will man auch rauchen. Und zwar sofort. In der „Berliner Kabarett Anstalt“, kurz BKA, will man Futschi trinken, auch sofort. Zumindest, wenn Ades Zabel in seiner Paraderolle als Edith Schröder, eine passionierte Hartzerin und Thresen-Königin, auf der Bühne steht.
Bei der Neuköllner Assi-Braut mit Herz und Hirn geht in „Hostel Hermannstraße“ mal wieder alles drunter und drüber. So wie im Vorgängerstück „LINIE 8“ schlittern Edith und ihre herrlich bekloppte Clique von einer Katastrophe in die nächste. Klar, dass da zur Beruhigung der eine oder andere Futschi gekippt werden muss. Und für alle, die’s nicht wissen: Futschi, das ist das Nationalgetränk Neuköllns. Die, meistens eine stärkere denn schwächere, Mischung aus Weinbrand und Cola hat nicht zuletzt dank Kurt Krömer auch außerhalb der Bezirksgrenzen Ruhm erlangt.
Hostel im Hipster-Kiez: eine Schnapsidee?
Der Plot des Stücks ist schnell erzählt: Edith ist seit neuestem Hausbesitzerin, was dazu führt, dass ihr der Hartz-Hahn zugedreht wird. Aus den Mieten, so meint sie, nimmt sie nicht genug ein. Und so setzt sie sich die fixe Idee in den Kopf, in ihrem Haus ein Hostel im touri-überschwemmten Hipster-Kiez zu eröffnen. Stolze 120 Ocken will sie für einen Schlafplatz im Mehrbettzimmer kassieren. Zusammen mit Busenfreundin und Kneipenbesitzerin Jutta (Bob Schneider), der lasziven Brigitte (Biggy van Blond), der geschwätzigen Türkin Hatice (Stefan Kuschner) und dem indischen Restaurantbetreiber von nebenan (Nicolai Tegeler) treibt sie ihr Projekt voran.
Das Musical-Theater – nicht umsonst heißt es „Neuköllnical“ – ist Transen-Varieté vom Feinsten. Und für dieses gilt ganz einfach: entweder man mag‘s, oder man mag‘s nicht. Wen Brachialhumor und Tussi-Temperament in einer unterhaltsamen, dafür aber auch vorhersehbaren Story nicht überzeugen, der kann sich am skurrilen Herzblutschauspiel von Ades Zabel und ausnahmslos jedem seiner Crew erfreuen. Daneben ist die multimediale Umsetzung die Stärke des Stücks: Immer wieder gibt es Videoeinspieler, die Ausflüge und Entgleisungen der Neuköllner Urgesteine festhalten und toll in Szene setzen. In Stummfilmmanier gibt’s hier exaltierte Mimik und Slapstick-Einlagen en masse.
En Masse: Das ist auch das Stichwort für die gute Laune und die Begeisterung des Premierenpublikums. Die Szene hat sich getroffen, herausgeputzte Transen im Conchita-Look und viele schwule Paare haben das Stück ihrer Freunde gefeiert.
Milieustudie? So halb vielleicht
Als am Ende der Vorstellung und nach ausführlichem Studium der Getränkekarte allerdings feststeht, dass hier kein Futschi ausgeschenkt wird, wird klar: Neukölln spielt vielleicht nur die Nebenrolle in einem Theater, dass sich auch örtlich ein Stück weiter im Süden der Hauptstadt, nämlich in Kreuzberg, verortet. Wer eine authentische Millieustudie erhofft, wird enttäuscht, wer Glitzer-Glamour- und Effekttheater mit jeder Menge Musik erwartet, der kommt auf seine Kosten.
Mehr Infos und den Spielplan gibt’s hier.