Berliner Häuser: Zum Umsteiger

Oase für Lokführer

Die Bahnhofskneipe "Zum Umsteiger“ steht einsam an der viel befahrenen Yorckstraße. Der Ort ist dennoch in mehrerlei Hinsicht ein Idyll.

Bei Menschen, die an diesem seltsamen Haus häufiger vorbeikommen, stellt sich früher oder später Bewunderung ein – selbst ohne jemals darin gewesen zu sein. Die Bewunderung ähnelt der, die man für Leuchtturmwärter verspürt, Menschen, die im ewigen Eis der Antarktis in einem Container arbeiten oder die Mitarbeiter einer alpinen Wetterstation. Kurz: eine Außenstelle der Zivilisation in unwirtlichem Gelände.

Das Haus steht für sich am Aufgang zur S-Bahnstation Yorckstraße und ist nicht Teil einer Häuserzeile. An dem Backsteinbau mit Giebel rauscht der Verkehr vorbei. Die Straße unter den Brücken ist viel befahren und Momente der Ruhe selten. Unter den Füßen rumpelt die U-Bahn, über den Köpfen die S-Bahn. Radfahrer passieren die Kneipe im halsbrecherischen Berliner Tempo. Fußgänger rennen zum nächsten Anschluss. Da steht plötzlich diese Kreidetafel im Weg: Wat weg muss: Erbsensuppe. Currywurst frisch aus der Pfanne.

Wer durch die Glastür aus dem Jahr 1905 tritt, findet sich unvermittelt in einer kleinen, eigenen entschleunigten Welt  wieder. Der „Umsteiger“ ist ein Refugium für Eisenbahner. Hier trifft man schon mal 18 Lokführer aus Hamburg oder deren ehemalige Kollegen von der Reichsbahn. Sogar schwedische Tramfahrer kehren hier mehrmals im Jahr ein. Kein Wunder, dass sich selbst die Dekoration dem Thema Eisenbahn widmet. Das seltsame Haus an der Yorckstraße dürfte jedoch auch Freunden von Alt-Berliner Kneipen und Rauchern zusagen. Es ist das kleine Reich des Schönebergers Hans-Werner Sens und seiner Frau, die den „Umsteiger“ bewirtschaften. Die vorbeifahrenden Busse füllen die Fenster der winzigen Kneipe komplett aus.

Vom Versicherungsvertreter zum Gastronom

Sens wuchs in Schöneberg auf und hatte jahrelang eine Versicherungsvertretung. 2004 verspürte er den dringenden Wunsch sich zu verändern. Er wollte etwas 100-Jähriges besitzen, doch „anstatt Johannes Heesters zu adoptieren“ kaufte er die Kneipe. Den alten Wirt kannte er von seiner Versicherung und der „Umsteiger“ lag früher auf Sens‘ Kneipenroute, die ihn von den Schöneberger Etablissements manchmal bis zum „Leierkasten“ in der Nähe des Südstern führte. In den neu erworbenen Räumlichkeiten riss der Neu-Gastronom den alten Teppich heraus und kaufte im KaDeWe meterlange grüne Stoffbahnen, aus denen er Tischdecken und Gardinen machen ließ. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie Gastronomie funktioniert“, sagt Sens. Nur eines war klar: „Ich wollte auf jeden Fall Tischdecken.“

Ein Zufall kam ihm zu Hilfe: 2005 brannte es im Anhalter Bahnhof. Die S-Bahn-Haltestelle war mehrere Monate gesperrt. Die Leute stiegen an der Yorckstraße um, legten immer die paar hundert Meter von der S1 zur S2/S25 und umgekehrt zurück. Das versteht man unter Laufkundschaft. Viele die damals zum ersten Mal den „Umsteiger“ betraten, sind heute Stammgäste.

Sens hat neben Grundrissen und Querschnitt auch die Originalzeichnung des Architekten von 1905 aufbewahrt. Das Haus sollte von Anfang an eine „Restauration“ werden. Im Erdgeschoss lag der Gastraum, die Wendeltreppe führte zur früheren Küche im Obergeschoss. Nach dem Zweiten Weltkrieg residierte hier bereits eine Bahnhofswirtschaft, später wechselten Name und Besitzer häufig. Inzwischen beschränkt sich die Kneipe auf das Erdgeschoss. Mit 25 Gästen ist sie ausgelastet. Die Zimmer in den oberen Stockwerken werden heute vermietet. Sens sagt, die Bewohner seien dank Lärmschutzfenstern zufrieden. Die Mieterin im Dachgeschoss hat ihr Geschirr auf Tücher gestellt, damit es nicht so klirrt, wenn Lastwagen und Busse vorbeifahren.

Das Idyll hinter dem Haus

Auf der Rückseite dieser Insel im Verkehr erwartet den Besucher die nächste Überraschung. Über eine Treppe, die den Hügel emporführt, erreicht man ein grünes Idyll. Kaum ein anderes Haus in Sicht, dafür Bäume und ein gepflegter Blumengarten mit Rosen und Hortensien. Ein kleines Gartenhaus aus Backstein steht daneben. In dem kleinen Teich holen sich gelegentlich Fischreiher ihre Mahlzeit, die Sens vorher ausgesetzt hat. Hühner gibt es allerdings nicht mehr, die liefen immer auf die Gleise und die Lokführer begannen sich zu beschweren. Dafür liegt ganz in der Nähe der Eingang zum neuen Park am Gleisdreieck.

In der Kneipe begrüßt Martina Sens jeden Gast per Handschlag. Man sitzt wie an einer Bar und dementsprechend locker ist die Atmosphäre. Hans-Werner Sens hat sogar eine kleine Bühne aufgestellt, er lädt zu Lesungen mit Ringelnatz und spielt Loriots „Frühstücksei“. Wenn seine Frau durchs Fenster ein bekanntes Gesicht sieht, zapft sie schon mal das richtige Bier an. Und wenn ein Stammkunde länger wegbleibt, fragen sie nach ihm. Zwei haben sie dadurch schon tot in ihren Wohnungen gefunden. Kurz nach zehn ist unter der Woche im „Umsteiger“ Feierabend. Die Lokführer müssen zurück nach Hamburg und Sens fährt mit seiner Frau nach Zehlendorf, wo sie inzwischen wohnen. Zum Abschied verrät er noch, dass er Omnibusse viel lieber mag als Eisenbahnen.


Quelle: Der Tagesspiegel

Zum Umsteiger, Yorckstraße 56B, 10965 Berlin

Telefon 030-23629351

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Montag bis Samstag ab 12 Uhr

Giebel in der Bahnhofsödnis: Die Kneipe "Zum Umsteiger"

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