Weiße Texttafeln vor weißen Wänden. Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts, und die Schrift verändert sich, neue Absätze werden sichtbar. Was man liest ist herzzerreißend, grausam und schwer zu begreifen: “Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Und dieses Zeitgefühl, das scheint bei den Menschen sich unterschiedlich schnell abzubauen.“ Wir befinden uns in der Cafeteria der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Hier hängen Texttafeln der Ausstellung “Dossier“, die am Montag, dem 21. Juli, eröffnet wurde und nun Teil der Dauerausstellung ist.
Der Installations- und Performancekünstler Arnold Dreyblatt hat 16 Leinwände in Lentikulartechnik bedruckt. Je nach Betrachtungswinkel und Lichteinstrahlung changieren die abgebildeten Texte. Es handelt sich vor allem um Erinnerungen ehemaliger Häftlinge des DDR-Regimes und behördliche Anordnungen aus dieser Zeit. Die gegensätzlichen Textgattungen stellen die bürokratisierten Repressionen, das Selbstverständnis der Wärter und die seelischen Qualen der Gefangenen nebeneinander und verbinden sie gleichzeitig.
Vollkommene Isolation
Eine Stunde später innerhalb des früheren Zuchthauses: Herr Fuhrmann, ein ehemaliger Häftling, führt durch die Anlage. Nüchtern, manchmal ironisch, schildert er die Geschichte der Untersuchungsanstalt. Zunächst geht es durch die fensterlosen Kellerzellen des alten Hauptgebäudes, das zu Kriegszeiten eine Großküche der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt war und den Sowjets ab Sommer 1945 als Gefängnis diente. Hier wurden Menschen verhört, denen man u.a. die Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Untergrundbewegung nach Kriegsende vorwarf. “Eine solche Organisation gab es nicht“, sagt Herr Fuhrmann und schildert daraufhin, wie mit den Gefangenen verfahren wurde. Die meist zu Unrecht Beschuldigten waren in Hohenschönhausen sowohl geistiger als auch körperlicher Folter ausgesetzt: „Man trieb sie durch Schlafentzug in die völlige Erschöpfung. Sie wurden bis fünf Uhr morgens vernommen, um sechs mussten sie dann wieder aufstehen. Schließlich waren sie so müde und kraftlos, dass sie alles unterschrieben haben, was man ihnen vorlegte.“ Zwischen 1945 und 1946 starben im Sowjet-Lager über 1000 Menschen. Jeder Dritte verhungerte.
Als die Stasi 1951 die Anstalt übernahm, änderten sich die Methoden. Der Psychoterror blieb. In einer der schummrigen Zellen des Neubaus erklärt Herr Fuhrmann, wie das SED-Regime mit „Republikflüchtigen“ und „Hochverrätern“ umging: „Vollkommene Isolation. Eingesperrt in dieser Zelle. Irgendwann sehnten sich die Insassen nach einem Verhör. Wer sich nachts auf die Seite drehte, um sich der ständigen Überwachung durch ein Guckloch zu entziehen, wurde mittels eines grell aufleuchtenden Lichts geweckt. Sein Gesicht durfte man niemals verdecken.“
Die Wahrheit begreifen
Schwere im Brustkorb, Druck in der Magengrube. Ein Tag in Hohenschönhausen führt dem Besucher vor Augen, was er sich vorher nur bedingt vorstellen konnte. Die Zellen und Gänge liefern historisches Ambiente, Herr Fuhrmanns Geschichten aber machen den Ort lebendig, füllen ihn mit Wahrheit. Trauriger Wahrheit. Danach bekommen auch die Texttafeln von Arnold Dreyblatt eine andere Intensität. Die Gedanken und Empfindungen der ehemaligen Gefangenen und die unmenschlichen Anordnungen des Regimes führen zurück in die dunklen Verliese der Sowjets und der Stasi. Die Erinnerung eines Häftlings, zu Anfang nur ein beklemmendes Bild, wird nach dieser Erfahrung unerträglich real:
“Und einmal habe ich während des Freigangs eine kleine Spinne gefunden, die mir in der Freigangzelle über den Weg lief. Und die habe ich mir mit auf die Zelle genommen, als kleine Bereicherung.“