Die junge Mutter, die mit ihrem Kleinkind aus dem Hochhausfenster schaut. Vom Leben gezeichnete Gesichter in Nahaufnahme. Junge Männer, die mit dem Moped über einen Acker heizen. Das Marzahn-Hellersdorf, das die Ausstellung Fernwärme in Schloss Biesdorf zeigt, ist nicht völlig anders als jenes, das wir zu kennen glauben. Es ist aber genau diese Mischung aus Erwartbarem und Unerwartetem, aus Authentizität und künstlerischer Fantasie, die Fernwärme 2019 zu einem Must-See macht – dem Jahr, in dem der Bezirk seinen 40. Geburtstag feiert.
Vor vier Jahrzehnten war die Großsiedlung Marzahn fertig, die ersten Bewohner zogen ein. Die Art des Wohnens und die Wohnungen galten als modern. Das änderte sich grundlegend in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung. Der Ruf des Bezirks Marzahn-Hellersdorf litt vor allem unter den Problemen der Neubausiedlungen: Der Anteil sozial schwächerer Bewohner, von Hartz IV-Beziehern und alleinerziehenden jungen Eltern, vor allem Müttern, war vergleichsweise hoch. Das alles schwingt in Schloss Biesdorf mit. Die jungen, an der Ausstellung beteiligten Fotograf*innen der Ostkreuzschule kommen alle von außerhalb. Sie haben mutmaßlich das Meiste über den Bezirk aus den Medien, dem Internet erfahren. Doch sie haben sich während ihrer Streifzüge auf die Realität eingelassen und so ein ehrliches und gleichzeitig poetisches Porträt von Marzahn-Hellersdorf geschaffen.
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Jenseits der Klischees: Junge Mütter, leere Straßen
Zu den Fotograf*innen, die soziale Fragen aufgreifen, gehören Tamara Eckhardt und Catharina Tews. Die jungen Mütter, die Eckhardt mit oder ohne deren Kinder porträtiert, stellen sich der Kamera bereitwillig und wo die Perspektive es zulässt, mit offenem Blick. Und doch werden auf den Bildern auch die Herausforderungen deutlich, mit denen sie konfrontiert sind. Tews wiederum widmet sich der euphemistisch „Boulevard Kastanienallee“ genannten Einkaufsstraße und den Menschen, die in ihrer Umgebung wohnen. Zu kaufen gibt es auf der Hellersdorfer Kastanienallee weniger als erhofft und auch aus den Gesichtern der Kinder wie Erwachsenen, die Tews zeigt, spricht nicht gerade Hoffnung, sondern eher Melancholie. Hier und da meint man auch eine Spur Stolz und Aggressivität zu erkennen.
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Milan Kochs Fotoserie heißt Mach’s gut und danke für die Seilbahn. Sie zeigt junge Leute beim Rumhängen und sich die Zeit vertreiben. Man trifft sich im Park, raucht, hat auch schon mal Luftballongas dabei oder fährt eben Moped. Stefan Weger wiederum porträtiert in seiner Reihe Vom Kommen, Bleiben und Gehen Jugendliche oder junge Erwachsene, von denen man nicht weiß, für welche der drei Optionen sie sich entschieden haben. Der Hintergrund: Marzahn-Hellersdorf ist der am schnellsten alternde Bezirk Berlins, während vor der Wende noch die Jungen dominierten. Zu Wegers Motiven, die im Gedächtnis bleiben, gehören die drei jungen Mädchen am See – das Foto wird auch auf den Flyern zu Fernwärme gezeigt.
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Poesie zwischen Plattenbauten
Die Ausstellung ist über zwei Stockwerke verteilt, nimmt aber nicht deren gesamte Flächen ein. Obwohl ich zu den Menschen gehöre, die nicht gerne den ganzen Tag in einem einzigen Museum verbringen: Von den Ostkreuz-Schüler*innen hätte ich mir gerne noch mehr angeschaut. Es gibt schließlich eine Vielfalt an Herangehensweisen zu entdecken. Clara Renner sucht die Poesie der kleinen Dinge und findet sie in einem grünen Pflänzchen oder Blättern auf einer Steintreppe. Maria Kalanidou fängt zwischen Platten- und anderen Neubauten die Melancholie der Standorte ein. Robert Gemming spürt auf seinen Bildern der Ruhe des Bezirks nach, kontrastiert etwa Häuserecken mit Bäumen. Bei Delia Friemels Indizien wird es rätselhaft und stimmungsvoll. Und dann sind da noch die humorvollen Gegensätze von Jonas Berndt und Zoe Zizola: Wer immer noch glaubt, Marzahn habe nichts mit Miami Beach zu tun, sollte sich die Bilder von Berndt angucken. Zizola wiederum erzählt uns das Märchen von den Marzahner Stadtmusikanten. Mit dabei sind Alpakas, Kühe und natürlich ein Hahn vom Tierhof in Alt-Marzahn.
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Fantasie und Realität, Technik und Kreativität – nichts davon lässt diese Ausstellung vermissen. Das reflektiert positiv auf die Ostkreuzschule für Fotografie, aber auch auf den Bezirk, der mit dem sanierten Schloss Biesdorf als Kunstraum eindeutig einen Schritt nach vorne gemacht hat. Fernwärme ist wärmstens zu empfehlen, wenn du aus Marzahn-Hellersdorf kommst oder auch nur einen Hauch von Interesse am Bezirk hast.
Die Ausstellung „Fernwärme“ in Schloss Biesdorf läuft noch bis zum 29. März.