Ohne Luftzwiebeln, Steinklee und Zuckerwurzeln geht bei Micha Schäfer nichts. Der Koch des „Nobelhart & Schmutzig“ in Kreuzberg mag es in der Küche „brutal lokal“. Importierte Zutaten wie Zitronen, Pfeffer oder auch Vanille fallen deshalb raus. Für ihn liegt der Reiz in der „Kreativität durch Beschränkung“. Deshalb auch die Kräutertour im Grunewald mit ihm, seiner Frau und den drei kleinen Kindern (4 und 2 Jahre, die Tochter zarte 9 Monate). Außerdem wohnen sie am Tempelhofer Feld. „Da hätte der Spaziergang wenig Sinn gemacht, da gibt es keinen Kiez.“
Vor einem Jahr zog er mit der Familie für den neuen Job von Frankfurt nach Berlin. Denn Kult-Sommelier Billy Wagner – der Gault Millau nennt ihn das „Enfant terrible der Berliner Weinszene“ – wollte ein eigenes Restaurant eröffnen, in dem alles ein bisschen anders ist. Als Micha ihm empfohlen wurde, setzten die zwei sich zusammen und kamen schnell auf einen kulinarischen Nenner. Offene Küche, ein Menü, Leitungswasser, guter Wein. „Nachhaltigkeit“ war generell ein Stichwort, lokal und saisonal sowieso.
Und ist das der Grund, warum der 27-Jährige einmal die Woche zum Sammeln in den Grunewald kommt? „Das ist mein Hobby und die schönste Form der Selbstbeschäftigung“, findet er. Außerdem profitiert seine junge Familie davon, mit der er so gleich Zeit im Freien verbringt, den Knirpsen das ein oder andere Kraut unter die Nase hält und eine Geschichte dazu erzählt. Aber auch alle anderen Berliner und Brandenburger könnten sich selbst sofort essbare Exotik in die Küche holen. „Die Wälder sind voll mit Wildkräutern und Wunderlauch“, sagt er. „Nur erkennt die keine Sau.“
Küche statt Hörsaal
Früher hätte sie Micha wohl selbst nicht gesehen. Immerhin studierte er mal ein Jahr lang Theologie statt Botanik. „Aber effektiv war ich vielleicht zwei Monate in der Uni“, räumt der gebürtige Schweizer ein. Während der Zeit arbeitete er parallel als Spüler bei einem Italiener und bekam beigebracht, wie man Petersilie hackt. Da habe er gewusst, wohin die Reise gehen soll. „Bei den langen, späten Arbeitszeiten muss man den Job allerdings wirklich wollen. Sonst macht es keinen Sinn.“
Ein typischer Arbeitstag sieht bei ihm so aus: Vormittags die Kinder („Dafür brauchst du Energie!“), gegen halb eins ins Restaurant mit den zwei Co-Köchen alles vorbereiten. 18.30 Uhr kommen die ersten Gäste in die Friedrichstraße, Küchenannahmeschluss ist halb elf. Dann wird geputzt. Gegen Mitternacht macht er sich für gewöhnlich auf den Heimweg. Große Saufgelage, die man nach Feierabend vermuten würde, kommen bei ihm eher selten vor. „Ich bin nicht so der Partytyp – war ich nie.“
Dann doch lieber die schrillen Kräuter. Die immer zu bekommen, ist logistisch ein Akt, den er sich selbst eingebrockt hat. Einer seiner 30 Produzenten ist etwa die „Wilde Gärtnerei“ aus der Markthalle Neun. „Die züchten echt spezielles Zeug und sind froh, wenn ich es ihnen abnehme.“ Außerdem bringen sie ihn auf spannende Ideen und Produkte. „Davon schmecken vielleicht fünf nicht. Aber eine Sache ist dafür dann richtig geil.“ Knoblauchrauke zum Beispiel oder junger Kohlrabi. „Der hat eine schöne Süße und milde Schärfe. Den lasse ich relativ unverändert.“ Sprich er serviert ihn roh und am Stück. Besteck kommt erst ab Gang drei ins Spiel.
„Das ist ein Blatt und kein Gang!“
Genau diese mutige Präsentation polarisiert, wird nicht von jedem Gast verstanden. Neben unzähligen Lobeshymnen auf‘s „Nobelhart“ gibt es auch ab und zu Kritik. Das seien vor allem Leute, die das Konzept nicht verstünden und Sachen sagten wie: „Das ist ein Blatt und kein Gang!“ Ein Einwand, den er sich bedingt zu Herzen nimmt. Denn auch Gast sein will gelernt sein. „Am liebsten sind mir die Gäste, die kommen, um einen guten Abend zu haben. Die essen, saufen, reden und gehen gut gelaunt nach Hause.“ Oder wie es sein Partner Billy sagt, wenn er den Restaurantnamen erklärt: „Am Anfang ist der Abend bei uns nobel, in der Mitte wird er hart und am Ende hoffentlich ein bisschen schmutzig.“ Erfrischend unkonventionell für eine gehobene Adresse. Und der Grund, warum es von ihm auch keine Vorgaben für die Küche gibt. „Für Billy haben Essen und Trinken einen ethischen Aspekt und es geht uns beiden um Qualität“, sagt Micha. In dem Punkt würden beide keine Kompromisse eingehen.
Oder eben zwangsläufig doch. Beim Thema Alkohol nämlich, dem Steckenpferd seines Kompagnons, sehen sie die brutale Regionalität nicht ganz so eng. Wein und sonstige Spirituosen dürften weiter gefasst für ihre jeweilige Region stehen. „Wenn man eine Zitrone um den Erdball schickt, sinkt die Qualität. Bei Wein in Flaschen ist das nicht so der Fall“, erläutert Billy. Die Beschränkung auf Berlin und Brandenburg wäre laut Micha auch aus einem anderen Grund schwierig: „Dann gäbe es nur schlechten Korn und komisches Bier.“ Ein Einwand, den man bei einem Menüpreis von 80 Euro exklusive Getränken nachvollziehen kann.
Auch privat geht der Koch oft essen. Wobei Restaurants beim Besuch der fünfköpfigen Familie logistisch zwei Kriterien zu erfüllen haben: 1. „Die Einrichtung muss kinderfest sein.“ 2. „Das Essen darf nicht total Scheiße schmecken.“ In dieser Reihenfolge. Immerhin hat er zwei Jungs. Das funktioniert zum Beispiel in der Markthalle Neun in Kreuzberg bei „Big Stuff Smoked BBQ“ gut. Für Pärchenabende darf‘s auch mal das „Industry Standard“ in Neukölln oder „Katz Orange“ in Mitte sein. Zwei Lokale, in denen sich Gastronomen generell gerne treffen. „Das kannte ich in der Szene so nicht. In Frankfurt hasst man sich“, sagt er und freut sich über die besseren Bedingungen in der Hauptstadt. Hier sei das Netzwerk stabil und überhaupt erst vorhanden.
Seine Küche bleibt ab 19. Juli in jedem Fall für vier Wochen kalt. Da muss er beim Sammeln Gas geben und vieles einwecken. „Sonst funktioniert das nicht.“ Als sie im März 2015 das „Nobelhart“ eröffneten, war es eine schwierige Zeit. „Das ist in der Welt des Essens tiefster Winter, weil selbst das eingelagerte Kohl- und Wurzelgemüse schon alle oder schlecht ist.“ Im Grunde gab es nur Bärlauch und Waldmeister. Und er musste vorab zuhause ordentlich Gemüse einlegen und fermentieren. Das soll sich jetzt ändern. Mit seinem Team will er Produzenten besuchen und wieder in den Wald. „Vom Kochen kann ich einfach nicht abschalten – vom Küchenchef schon.“
Zuvor legt er allerdings noch einmal eine Schippe drauf und kocht beim Steinbeisser Event vom 2. bis 5. Juli ein Fünf-Gänge-Menü, das er nicht nur aus regionalen und saisonalen Zutaten zubereitet, sondern auch noch ausschließlich vegan. Mehr Infos dazu hier.