Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein
Kleine Zettel mit antifaschistischen Botschaften verteilt in der Stadt: Das sind die schlichten Mittel, mit denen ein einfaches Ehepaar in der Nazi-Zeit versucht, Widerstand zu leisten, nachdem es seinen Sohn in Hitlers Krieg verloren hat. Die originelle Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten und doch ist es vermutlich vor allem das Lokalkolorit, das diesem Roman zum Erfolg verholfen hat. Die Berliner Unterschicht in den heute so begehrten Arbeitermietshäusern, das Hinterhof-Leben, das kriminelle Milieu und die typischen Charaktere der 1940er Jahre machen den Roman zu einem historischen Ereignis. Zu hoch gegriffen? In der DDR kam Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein zunächst nur bearbeitet auf den Markt, einige Passagen passten nicht ins sozialistische Weltbild. Als der Roman 2011 endlich in ungekürzter Version erschien, wurde er 60 Jahre nach seiner Erstauflage verdient zum Bestseller.
Jeder stirbt für sich allein, Aufbau Verlag, Taschenbuch: 12,99 Euro
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz
Jeder hat schon von diesem Roman gehört, aber gelesen…? Dann wird es höchste Zeit: Alfred Döblins Meisterwerk aus den 1920er Jahren gilt als einer der bedeutendsten Großstadtromane aller Zeiten. Und das nicht ohne Grund. Der Roman ist sprachlich und inhaltlich ein Fest – mit wunderbaren Milieubeschreibungen. „Dieses Buch berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin. Er ist aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorfälle saß, entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein.“ Dieser Anfang deutet schon an, dass Herr Biberkopf es nicht allzu leicht haben wird. Gönn dir das Lese-Vergnügen.
Berlin Alexanderplatz, Fischer Verlag, Taschenbuch: 10,99 Euro
Sven Regener: Herr Lehmann
An dieser Stelle hat die coole Kreuzberg-Hommage Herr Lehmann den Kultroman Tschick rausgekickt, weil Wolfgang Herrndorf doch mehr ein Brandenburg-Road-Book verfasst hat. Sven Regener hingegen zeigt mit so viel Liebe einen (fast) vergessenen Kiez, der in den 1980ern für Freiheit, Kunst und Feierlaune stand, dass wir uns fast die Mauer zurück wünschen. In Herr Lehmann geht es um die höchsterträgliche Leichtigkeit des Seins, die vor allem nachts mit einigen Promille in vollen Zügen genossen wird. Doch das alkoholisierte Paradies gerät ins Wanken. Mit dem Mauerfall bricht eine Realität in Kreuzberg ein, die für die Lebenskünstler kaum zu verkraften ist. Der Roman mit dem (fast) unspektakulären Helden liest sich dank trockenstem Humor und großartiger Situationskomik in einem Atemzug wie von selbst.
Herr Lehmann, Goldmann Verlag: 9,99 Euro
Ernst Haffner: Blutsbrüder
Blutsbrüder ist ein Cliquen-Roman aus dem Jahr 1932, der Laune macht! Im Nationalsozialismus wurde das Buch verboten und verbrannt, 2013 wiederentdeckt und neu aufgelegt. Es erzählt eindringlich von den vielen Jugendlichen, die zwischen den Kriegen in der Hauptstadt auf der Straße um ihr Überleben kämpften – meist auf der Flucht vor und aus Erziehungseinrichtungen und mit nicht ganz legalen Mitteln. Haffner zeigt, was Schutz und Zusammenhalt in dieser Zeit bedeutet haben, indem er das Leben einer Jugendbande in Berlin sehr genau und vor allem spannend beschreibt. Viele Beobachtungen scheint der Journalist Haffner, der auch als Sozialarbeiter tätig war, selbst gesammelt zu haben, wodurch das Buch sehr lebendig wirkt. Die Beschreibungen sind oftmals traurig und urkomisch zugleich. Kurz: ein lesenswerter Einblick in eine ganz besondere Berliner Subkultur.
Blutsbrüder, Metrolit Verlag, Hardcover: 19,99 Euro.
Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
Auch der satirische Roman von Erich Kästner spielt in den Dreißigern, kurz vor der Machtergreifung Hitlers. Der Ex-Adressenschreiber und Reklametexter Jakob Fabian lässt sich durch das Berliner Nachtleben treiben. Dabei begegnen dem Moralisten Sex, Sittenverfall und Typen der Berliner Unterwelt. Seine Beobachtungen beschreibt er dem Leser ironisch-distanziert mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Trotz all der kleinen und größeren Katastrophen zeigt es sich, dass es immer noch schlimmer kommen kann – auch politisch. Obwohl dieses Buch voller Provokationen und bissigem Humor für die Leser der damaligen Zeit steckt, lassen sich viele Wahrheiten auf die heutige Zeit übertragen. Darüber hinaus ist es brillant geschrieben und zeitlos großartig. Für Fans der Kästner-Kinderbücher natürlich ein Lese-Muss!
Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, dtv Velag, Taschenbuch: 6,89 Euro
Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
Viele haben das Buch als Teenager gelesen, die einen heimlich, die anderen pflichtbewusst im Deutschunterricht. Oder etwa nicht? Es macht gar keinen Sinn, hier zu leben, wenn man Wir Kinder vom Bahnhof Zoo nicht gelesen hat. Der Roman ist kein literarisches Kunstwerk, aber ein Stück Zeitgeschichte. Ein emotionaler Bericht über eine Berliner Szene, mit der wir (zum Glück) nicht viel zu tun haben im Alltag, und die dennoch nie aufhören wird zu existieren, so lange es Drogen gibt: Zwischen Sucht, Verfall und Anschaffungskriminalität zeichnet das Buch ein Bild über Freundschaften, die erste Liebe und das pulsierende Leben einer Großstadt, die es so nach dem Mauerfall gar nicht mehr gibt. Nicht umsonst gibt es die Kinder vom Bahnhof Zoo bald auch als Serie. Christiane F., deren Biografie Kai Hermann in diesem Roman verarbeitete, lebt bis heute. Von den Drogen ist Frau Felscherinow leider nie weggekommen.
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, Carlsen Verlag: 9,99 Euro
9. Mär 2017 um 6:45 Uhr
Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen
Doris möchte in Berlin unbedingt ein „Glanz“ werden, also über alle Normalität und Armut hinauswachsen. Wie sie ihr Ziel erreicht, ist ihr vollkommen egal: mit Hilfe vorgetäuschter Tatsachen, durch echte Talente oder die finanziellen Mittel zahlreicher Verehrer. Welches Urteil man auch über Doris fällen mag, dass sie ehrgeizig ist, lässt sich nicht bestreiten. Außerdem macht es unglaublich viel Spaß, sie durch Berlin, ihre Geldnot und diverse Berliner Betten zu begleiten. Erst recht, wenn man moderne SM-Romane meidet und ein Faible für schöne Worte hat, auch wenn einige davon nicht hochdeutsch sind.
Das kunstseidene Mädchen, Ullstein Verlag, Taschenbuch: 8,99 Euro
Walter Benjamin: Berliner Kindheit um 1900
Wer immer mal wieder Lust auf kleine Lesevergnügungen hat, dem sei die Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin ans Herz gelegt. Der Philosoph zeigt sich in seinen Erinnerungen offen, verträumt, manchmal fast poetisch, aber natürlich auch stets ein wenig kopflastig. Dennoch brauchst du kein Studium, um dich auf die Beschreibungen und Fragmente einzulassen. Walter Benjamin widmet sich durch und durch weltlichen Themen, wie der Schokolade und dem Telefon, er streift durch Tiergarten und entdeckt kleine Geheimnisse im Alltag. Ein Zuckerschlecken war die Kindheit um 1900 nicht immer, doch die spürbare Melancholie Benjamnins ist von schwerer Süße – oh, das klingt auch schon sehr nach letztem Jahrhundert, verzeih…
Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Suhrkamp Verlag, Taschenbuch: 6,00 Euro
Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee
Ab wann darf man ein Buch einen Klassiker nennen? Sobald sich das Potential für einen solchen Status abzeichnet: Das kürzere Ende der Sonnenallee war schon ein Klassiker, bevor der Roman 1999 erschien. Thomas Brussig schrieb nämlich erst mit Leander Haußmann das Drehbuch zum Kultfilm Sonnenallee, bevor er alle Ideen, die nicht in 90 Minuten Filmzeit auserzählt waren, ins Buch packte. Mit viel Humor lotet auch hier die Clique rund um die Protagonisten Micha und Mario ihre Grenzen in Ost-Berlin aus, während es Michas Hauptantrieb ist, seinen Schwarm Miriam zu erobern, zeigt Mario weit mehr revolutionären Geist. Nicht zuletzt die witzigen Anekdoten, die übersteigerten Charaktere und der Ossi-Slang haben den Hinter-der-Mauer-Roman in unsere Liste katapultiert.
Am kürzeren Ende der Sonnenallee, Fischer Verlag, Taschenbuch: 8,99 Euro
16. Feb 2017 um 4:33 Uhr
Richard David Precht: Die Kosmonauten
Was passiert, wenn ein westdeutsches Paar gemeinsam nach Berlin zieht? Wir wollen jetzt nicht schwarzseherisch wirken, wenn wir hier arge Probleme andeuten, aber die Protagonisten in Richard David Prechts Roman haben es auch nicht leicht. Voller Illusionen und Wünschen kommen sie zur Wendezeit in die Hauptstadt, ergattern noch eine dieser Traumwohnungen, die spottbillig damals auf dem Markt waren, doch dann hört ihre Glücksphase fast schon auf. Jeder für sich muss plötzlich klar kommen mit Berlin und seinen Herausforderungen. Überschattet wird in gewisser Weise das Leben hier unten auf der Erde vom letzten sowjetischen Kosmonauten, der seine Bahnen im All zieht. Mehr verraten wir nicht, denn jetzt liegt es an dir, ob du dir den humorvollen, lakonischen und mitreißenden Roman entgehen lassen willst.
Die Kosmonauten, Goldmann, Taschenbuch: 9,95 Euro