Was wird aus Kreuzberg? Nicht erst seit dem jüngsten Sieg von Gentrifizierungs-Gegnern über das Guggenheim-Lab wird die Debatte um die Zukunft des trendigen Bezirks erbittert geführt. Das Gelände an der Cuvrystraße, auf dem das kreative Diskussionsforum von Guggenheim und BMW entstehen sollte, bleibt frei zugänglich und kann von der Nachbarschaft weiter als alternativer Feier- und Treffpunkt genutzt werden. Die ersten Monate des Jahres 2012 beweisen: In Kreuzberg wird die Fackel des Protestes gegen Kapitalismus, Mieterhöhung und Touristen-Hype hochgehalten.
Das Gefühl des „Wir-sind-anders!“, dessen Wurzeln in den Protesten der 68er und der politisch aktiven Hausbesetzer-Szene der Achtziger Jahren liegen, scheint weiterzuleben. Und doch ist nicht alles eitel Sonnenschein. Die Proteste der Anwohner können den Wandel des Bezirks wohl nicht dauerhaft aufhalten und die Reste der von linken Quergeistern, Kreativen und Punkern geschaffenen alternativen Szene werden unter den Füßen der zahlreichen Berlin-Besucher zunehmend abgetragen. Der Trend zerstört den Mythos.
Junge Geschäftsleute an der Oranienstraße verdienen zwar an den interessierten Touristen, doch sie fürchten trotzdem den „Ausverkauf“. Ein älterer Anwohner macht deutlich, was ihn an den Strömen der Sightseeing-Passanten stört: Er betritt ohne zu grüßen einen Vintage-Shop, zückt sein Handy und schießt Fotos von der im Trend liegenden altmodischen Einrichtung. Dann verlässt er ohne sich weiter umzublicken das Geschäft. Die Botschaft der Aktion: Die Touristen sehen in Kreuzberg nur eine begehbare Kulisse mit Geschichte.
Protest vs. Kommerz
Am Mariannenplatz prangt die Botschaft „Stop Artistification“. Der Polit-Sticker will „gegen Schnösel“ protestieren, während einige Meter weiter eine Schaufensterpuppe braune Bermudas mit Hosenträgern zur Schau stellt. Die Subkultur ist schon längst in der Mode angekommen und die Suche nach Alternativen fällt schwer. Der 37-jährige Sven, Inhaber des „Disorder“-Geschäfts in der Mariannenstraße und seit 1991 Kreuzberg-Kenner, möchte keine „Berlin“-T-Shirts verkaufen – statt dessen kann man bei ihm schwarz-rote Accessoires erwerben. Eine Fahne mit den Farben der Autonomen gibt es für 13 Euro.
Sein Geschäft, das trotz des Touristen-Sturms auf Kreuzberg nicht übermäßig viel Geld abwirft, ist auch Svens Büro. Hier arbeitet er als Grafiker. Eine Kombination die so „nur in Kreuzberg funktioniert“. Neben dem Hype können alternative Projekte in Kreuzberg weiterbestehen, so Sven. Es gebe durchaus noch Raum für weniger am Gewinn, als vielmehr am positiven sozalen Umfeld interessierte Betriebe. Die „Verankerung in Nachbarschaften“ sei ein wesentliches Ziel des Arbeitens. Sven ist einer von denjenigen, die das alternative Kreuzberg jenseits vom freien Markt am Leben erhalten.
Auch an der Bühne der Antifaschisten auf dem MyFest hat er sich engagiert. Und doch wolle er keine festgefahrene Ideologie und ein uberührtes Kreuzberg verteidigen. „Es muss nicht alles so bleiben“, sagt Sven. Und dass er auch mit den Touristen leben könne, solange sie nicht in der Überzahl sind. „Wenn das Ganze zur Industrie wird, dann wird der Tourismus zum Problem, damit wird das Flair kaputt gemacht“, befürchtet er. Unkommerziell genutzte Flächen seien wichtig, um das „andere“ Kreuzberg zu bewahren. „Wir brauchen Orte, wo mal gar nichts stattfindet, wo man ohne Kontrolle hin kann und ohne Eintritt zu zahlen – Orte, an denen man sein kann, ohne Kunde zu sein oder eine Gesichtskontrolle passieren zu müssen.“
Verdrängte Armut
Wohin der Weg Kreuzbergs führen könnte, beschreibt Pfarrer Stefan Matthias. In der Kita der evangelischen Gemeinde um die Taborkirche im Wrangelkiez kann er die Veränderungen deutlich ablesen. Wäre vor einigen Jahren noch fast jedes zweite Kind türkischer Herkunft gewesen, so seien türkische Kinder heute in der Unterzahl. Auch die soziale Struktur habe sich gewandelt: Rund 60 der 120 Kinder in der Kita hätten einen akademischen Hintergrund. Matthias beschreibt, wie das Zusammenleben im Kiez völlig neu geordnet werde. Unten, in „bedenklicher“ Armut, lebten die seit Jahrzehnten ansässigen, meist türkischen Familien. Oben würden von einer einseitigen Wohnungspolitik die wohlhabenden und bildungsnahen Zuwanderer verortet.
Wenig optimistisch klingt auch, was die alternativen Vorreiter des SO36 über die Entwicklung ihres Kiezes feststellen. Hermann Solowe, seit 30 Jahren in Kreuzberg ansässiger Künstler und Kenner des Bezirks beobachtet von seinem Atelier aus den vergnügungssuchenden Nachwuchs Europas und stellt auf die Frage, wer Kreuzberg regiere, kurzerhand fest: „Der Markt.“
Diese pessimistische Antwort aus dem Mund eines offenen Kreuzbergers, der in einem unabhängigen Haus mit sozialorientierter und basisdemokratischer Einstellung wohnt? Solowe hat mit der Politik der Stadt längst abgeschlossen. In seinen Ohren klingt die Freude Wowereits darüber, dass steigende Mieten ein Indikator für den wirtschaftlichen Erfolg Berlins seien, wie Hohn. „Für wen soll das toll sein, außer für den, dem die Hütte gehört?“ Seine Freundin Heba Choukri nimmt den Sturm auf Kreuzberg mit Humor: „Berlin ist auf der Straße nach Ibiza – in zwanzig Jahren sind die alle weg, die ich kenne.“