Der Reuterkiez, auch Kreuzkölln genannt, wird im Südwesten durch die Sonnenallee und den Hermannplatz abgegrenzt. Während dort noch viele Spielotheken und türkische Abendmodenläden zu sehen sind, verändert sich das Stadtbild beim tieferen Eindringen in das Quartier sehr schnell. Auf der Weserstraße findet sich ein paar Meter hinter dem International Afroshop Alpha and Omega schon der erste Bioladen Biosphäre, der vegane und vegetarische Produkte anbietet. Die zahlreichen Bars, die hier in den letzten Jahren aus dem Boden gesprungen sind, haben um diese Uhrzeit noch geschlossen. Ab 18 Uhr lädt dann beispielsweise das Schilling zum „Betreuten Trinken“, bittet jedoch an der Fensterscheibe mit einem ausgedruckten Emoticon, welches den Finger vor den Mund hält, ab 22 Uhr Rücksicht auf die Anwohnerschaft zu nehmen. Daneben proklamiert ein Zettel, dass es hier keinen Platz für Nazis gibt. Und zwar auf Spanisch: „No hay lugar para Nazis“.
Wohngebiet bei Tag, Partymeile bei Nacht
Im Reuterkiez hört man längst nicht mehr nur deutsch, türkisch oder arabisch. In den neuen Locations sollten sich die Menschen sowohl vor als auch hinter dem Tresen auf Englisch, am besten auch gleich auf Spanisch, über die Getränke-und Speisebestellungen verständigen können. Neuankömmlinge, die sich nicht immer auf diese Weltsprachen verlassen möchten, wird dann an gefühlt jedem zweiten Lampenmast mit Hinweisen auf „German Lessons“ weitergeholfen.
Ein paar Schritte weiter steht dann auch schon der erste schwarz-weiße Photoautomat. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich dieser Kiez zum Hotspot gemausert hat. Die Partyszene Kreuzköllns besteht zu einem großen Teil aus einem linkssozialisierten und auch queeren Publikum, welches vor allem in den beliebten Bars Silverfuture oder Tristeza anzutreffen ist, oder mit einem Bier vom Späti um die Häuser zieht.
Um 14 Uhr sieht es hier noch ganz anders aus. Jetzt sieht man, wer in dieser Gegend wohnt und arbeitet. Manchmal wird es sehr eng, wenn Lieferwagen auf den nicht allzu breiten Fahrwegen ihre Ware abladen, aber richtig hektisch wird es eigentlich nie. Die meisten Seitenstraßen vermitteln mit ihrem Kopfsteinpflaster das Flair eines sorglosen Wohngebiets. Ein Auto lässt gelassen einem weißhaarigen Rentner auf seinem schwarz-gelben Mountainbike die Vorfahrt. Es sind Menschen allen Alters und Lebensstils unterwegs. Väter schieben ihre Kinder im Wagen zum Spielplatz auf dem Reuterplatz, Frauen mit Dreadlocks gehen mit ihren Hunden spazieren, Schulklassen kreuzen ihren Weg und muslimische Frauen mit Kopftuch bringen ihre Einkäufe nach Hause.
Eine Mischung aus dem alten Nordneukölln und dem hippen Kreuzkölln
Hier und da sind Eingangstüren mit arabischen Lettern beschriftet, Männer gehen sich auf türkisch unterhaltend spazieren und von den Balkonen wehen Flaggen aus verschiedenen Ländern. Daran ist dann doch zu merken, dass wir uns hier in einem Stadtteil mit einem großen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund befinden. Auch das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt hier mehrheitlich unter dem Berliner Durchschnitt. Durch steigende Mieten verändert sich die Anwohnerschaft allerdings. Und das noch deutlicher als in anderen Teilen Neuköllns. Neue MieterInnen, die nach 2007 ins Reuterkiez zogen, verfügten über ein Prozent mehr Einkommen als der Berliner Durchschnitt und wer sich nach 2009 eine Wohnung suchte, musste rund einen Euro mehr pro Quadratmeter zahlen.
Diese Neuankömmlinge sind gleichzeitig Klientel und Betreibende der veganen Imbisse, bunten Kinderbekleidungs- und Holzspielzeugläden und alternativen Veranstaltungsorte. Von Problemkiez spricht hier niemand mehr. Es gibt zwar immer noch viel Graffiti, allerdings neigt dieses oft zur melancholischen Streetart oder passt sich mit englischer Sprache und witzig-politischen Sprüchen an die Leserschaft an. Selbst die im Jahr 2006 in den Medien berüchtigt gewordene Rütli-Schule ist als „Campus Rütli“ längst ein Sinnbild des erfolgreichen Quartiersmanagement und sogar Vorbild für andere Lehrinstitutionen.
Zwischen all diesen Gentrifizierungsauswüchsen finden sich jedoch immer noch vereinzelt alteingesessene Wirtshäuser, Elektroinstallationsbetriebe und Trödelläden. Bleibt nur zu fragen, ob und wann auch sie in andere Teile der Stadt umziehen müssen.
In Neukölln bin ich selbst geboren und habe dort meine Kindheit verbracht. Meinen Erinnerungen nach sah es damals dort aber noch ganz anders aus. Weniger hippe Burgerläden und mehr leere Ladenräume. Den neuen Entwicklungen im Kiez stehe ich ambivalent gegenüber. Einerseits gibt es tatsächlich tolle Bars und Cafés, andererseits möchte ich nicht zu einer steigenden Gentrifizierung beitragen. Wohnen bleibe ich also erstmal im Friedrichshain.