Lenin in der Schaubühne

Die Revolution frisst ihre Kinder

In "Lenin" blickt Regisseur Milo Rau auf die folgenreichste Revolution der Menschheitsgeschichte zurück.
In "Lenin" blickt Regisseur Milo Rau auf die folgenreichste Revolution der Menschheitsgeschichte zurück.
Nackt, sabbernd, tobend: In der Berliner Schaubühne wird der russische Revolutionär Lenin ganz ohne Heldenepos dargestellt.

100 Jahre Oktoberrevolution – das Jubiläum nimmt Regisseur Milo Rau zum Anlass, sein Stück Lenin an der Berliner Schaubühne aufzuführen. Der Zuschauer erlebt die Zeit von Lenins Krankheit, die schleichende Machtübernahme Stalins und die Auswüchse der Revolution mitsamt Armut, Tod und Folter. Leider ist der Inhalt des Stücks für das Publikum aber fast so schwer verdaulich, wie Marx Sozialismus-Wälzer „Das Kapital“. Wer kein Vorwissen mitbringt, wird von den historischen Andeutungen und ideologischen Dialogen schnell überfordert sein.

Ob Lenin in diesem Stück auf ein Podest gehoben oder sein Andenken durch das gnadenlose Zurschaustellen seines Verfalls geschändet wird – das wird jeder anders empfinden. Regisseur Milo Rau bemüht sich, gute als auch schlechte Seiten der Figur Lenin herauszuarbeiten: die cholerischen Anfälle und eine grausame Härte gegenüber Gegnern, aber auch der unbeugsame Kampf für eine klassenlose Gesellschaft, die Abscheu vor Heldenverehrung und die tiefe Liebe durch seine Gefolgsleute. Ob nackt, tobend oder gelähmt und sabbernd: Die Schauspielerin Ursina Ladi versteht es meisterhaft, die Hilflosigkeit Lenins und seinen unbeugsamen Willen zu vereinen. Ob die vielen Nacktszenen für die Botschaft des Stücks notwendig waren, ist allerdings fraglich. Es scheint, als ob Milo Rau vor allem auf Schockmomente setzt, um das Publikum über die komplizierten Dispute hinweg bei Laune zu halten.

Im Gedächtnis bleibt auch die grotesk-komische Szene, als Felix Römer in der Rolle des Trotzki mit viel Enthusiasmus einen onanierenden Jugendlichen in einem Wedekind-Theaterstück nachspielt. Sein Gesicht ist verzerrt und rot, der aufgerissene Mund bringt nur noch eselsgleiche Schreie hervor. Diese filmreife Inszenierung wird dann auch in Großaufnahme auf einem Bildschirm an der Decke gezeigt, auf dem man das gesamte Stück wie einen Live-Film sehen kann. An sich eine interessante Idee und handwerklich gut umgesetzt, denn so bekommt der Zuschauer abwechselnde Einblicke in das Geschehen im Haus. Doch für das inhaltlich anspruchsvolle Stück ist der Genremix nicht geeignet: Sobald man versucht, neben dem Film auch das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen, verliert man den Faden. Und während sich das kleine Haus wie ein Kreisel dreht und dreht um den Mikrokosmos Lenin, stirbt er schließlich und mit ihm die Idee seiner Revolution: Das Haus steht still, eine Ikone ist geboren.

 

Die nächsten Vorstellung finden am 5., 9. und 10. Dezember 2017 und am 19., 20. und 21. Januar 2018 statt.

Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, 10709 Berlin

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