Kleine weiße Rosen liegen an der roten Backsteinmauer. Wind pfeift durch den Hinterhof. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus mit der Nummer 162 ist ein großer Fußball aus Stein unübersehbar. Er soll an die Geschichte eines Gebäudes in der Schönhauser Allee erinnern. Hier gibt es Berlins jüngsten Erinnerungsort – für die von den Nazis deportierten und ermordeten Zöglinge und Erzieher des einstigen Baruch-Auerbach’schen Waisenhauses.
Die Waisenhaus-Bewohner wurden erschossen oder nach Auschwitz abtransportiert
Die rote, 13 Meter lange Mauer hinter einer einsamen Balsampappel ist der Rest eines imposanten Gebäudes, das im Jahre 1897 von den ersten 80 Zöglingen eines jüdischen Waisenhauses bezogen wurde. 1937 lebten hier, auf dieser „Insel im braunen Meer“, wie ein Überlebender sagt, mehrere 100 Mädchen und Jungen. Doch am 19. Oktober 1942 verließ der 21. „Osttransport“ mit 959 Menschen Berlin, darunter waren 60 Waisenhaus-Kinder zwischen neun und 16 Jahren. In den Wäldern von Riga wurden die Berliner Juden erschossen. Und zehn Tage später gehörten Auerbacher Kinder im Alter zwischen zehn Monaten und 16 Jahren mit etlichen Betreuern zum 23. Transport nach Auschwitz.
Die Künstlerin Susanne Ahner gewann einen vom Land Berlin ausgelobten Wettbewerb zur Erinnerung an das Haus und seine Zöglinge: „Hier habe ich gelebt“ nennt die Bildhauerin, die seit 1979 in Berlin lebt und arbeitet, ihr Werk. 140 Namen und das jeweilige Alter der Kinder, Jugendlichen und deportierten Betreuer wurden mit einer Sandstrahlpistole in die Ziegel graviert. „Ich habe mir vorgestellt, dass sich die jungen Menschen dort noch einmal verewigt haben, um zu sagen: ‚Ich war hier!'“ Die 54-jährige Künstlerin erhofft sich, dass auch durch diese Gedenkmauer die Erinnerung an eine menschenverachtende Zeit in Deutschland wachgehalten wird.
Auch der jüngere Bruder von Hans Rosenthal wurde von den Nazis ermordet
Ein älterer Herr hatte bei der Übergabezeremonie ein zu Herzen gehendes Grußwort gesprochen: Der 90-jährige Walter Frankenstein ist einer der letzten noch lebenden Auerbacher, die damalige Zeit hat er in seinem bewegten Leben nicht vergessen: Wie er 1936 als Jugendlicher ins Berliner Waisenhaus kam, da die Nazis jungen Juden verboten, nichtjüdische Schulen zu besuchen. Im Auerbach verliebt er sich 1942 in die Erzieherin Leonie Rosner und heiratet sie. Muss Zwangsarbeit leisten, Luftschutzkeller ausbauen, auch Bauarbeiten im Büro von Adolf Eichmann in der Kurfürstenstraße ausführen.
Zu den Erinnerungen, die er hat, wenn er in die Schönhauser Allee kommt, gehört auch die Episode um Gert, den jüngeren Bruder des späteren TV-Unterhalters Hans Rosenthal, der in der Illegalität einer Laubenkolonie der Deportation entging. Auch Hans Rosenthal schreibt in seinen Memoiren: „Als ich ein letztes Mal ins Waisenhaus ging, um Abschied zu nehmen, hatte Gert von seinen Ersparnissen fünfzig Postkarten gekauft. Er hielt sie stolz in der Hand und zeigte sie mir. ‚Hansi‘, sagte er, ‚auf diesen Postkarten steht schon deine Adresse. Alle zwei Tage werde ich dir schreiben, wo ich bin und wie es mir geht.'“
Hans Rosenthal hat keine Karte bekommen. Und seinen Bruder nie wiedergesehen.