Nummer 119 ist schon wieder in Liebeslaune. Obwohl ihre Jungen gerade erst geschlüpft sind. Nummer 119 ist eine quietschgelbe Kanarienhenne in einem Vogelbauer im sechsten Stock eines Hauses an der Grammestraße in Siemensstadt. Jetzt macht sie gerade mal ein Päuschen vom Füttern, hopst putzmunter hin und her, dann peilt sie das Männchen an. Trillern, Flügelschlagen. „Klarer Fall“, sagt Cevat Candemir, „die bringt ihren Kerl in Stimmung“. Candemir ist ein kräftiger Mann mit Stoppelbart, Jogginghose und bunt kariertem Hemd. Er ist 62 Jahre alt, in der Osttürkei aufgewachsen, lebt seit 40 Jahren in Berlin und züchtet fast ebenso lange Kanarienvögel. Seine Leidenschaft hat er in der Berliner Migrantenszene fest verankert: Seit 1999 ist er Gründer und Chef des Vereins „Türkische Kanarienliebhaber“.
Es gibt in Berlin eine ganze Reihe traditionsreicher Vogelzucht- und Kanarienvereine. Wieso machen die Türken also ornithologisch ihr eigenes Ding? Zumal neben den Kanarienliebhabern noch ein zweiter Verein fest in türkischer Hand ist: Der „Internationale Kanarien Club“ in Neukölln.
Die Kanarien vom Bosporus sind ja eigentlich Fußballer
Wenn von „Kanarienvögeln am Bosporus“ die Rede ist, denken Fußballfans eigentlich eher an die Kicker des Istanbuler Vereins „Fenerbahce“ in ihren gelben Trikos als an die kleinen quirligen Sänger. Candemir schmunzelt. „In der Türkei sind die Kanarien an sich extrem beliebt. Die werden vergöttert. Ganz im Gegensatz zu Deutschland.“ Wenn ein Zuchtverein in Istanbul ausstelle, habe er jede Menge Publikum. „In Berlin kommen immer weniger Interessenten.“ Das war mal anders. In den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik erfreute „Hansi“, der Kanarienvogel, noch viele Familien mit seinen Arien am Küchenfenster. Aber „Serinus canaria forma domestica“, wie die gezähmte Girlitz-Art von den Kanarischen Inseln heißt, ist aus der Mode gekommen.
Es zwitschert und piepst jetzt um ihn herum so aufgeregt, als wäre ein ganzer Schwarm Sperlinge eingefallen. Die wahren Sänger legen aber erst richtig los, wenn er wieder draußen ist. „Sind keine Rampensäue, eher schüchterne Stars“, murmelt Candemir. Jetzt lässt er aber leise die Tür einen Spalt breit offen: „Ru, ru, ru, ro ro ro“, dazu sagen die Fachleute „Hohlrolle“. „Dü, dü, dü – du du du“, das ist die „Pfeife“. Erst abends säubert Candemir die Käfige, täglich eine Stunde lang.
Man fühlt das Herz der Küken pulsieren
Die Karriere als Kanarienzüchter beginnt mit der Qual der Wahl. Wer aktiv einsteigt, entscheidet sich in der Regel, ob er lieber die verschiedenen Farbschläge zwischen grün- grau, gelb und rot, die körperliche Größe und Gestalt – die sogenannte „Positur“ – oder den Gesang durch Kreuzungen verfeinern und variieren will. Cevat Candemir hat sich in erster Linie für die Positur entschieden. Und hier für eine renommierte Zucht von den britischen Inseln: die Yorkshire-Rasse. Man nennt sie auch die Aristokraten unter den Kanarien wegen ihrer Stattlichkeit und Größe von mehr als 17 Zentimetern. Der gelbe Hahn, auf den er jetzt deutet, hat im Januar 2015 als Model eine Goldmedaille bei der Deutschen Meisterschaft geholt. „Lange Beine, wohlgerundeter Kopf, aufrechte, stolze Haltung, glattes Gefieder“, schwärmt sein Besitzer. „Und die Körperform bis zur Schwanzspitze – wie eine Karotte.“
Zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch breitet Candemir so viele Urkunden und Medaillen aus, dass man die Platte kaum mehr sieht. Meist für seine Yorkshire-Zuchten verliehen. Aber es sind auch Preise für die sogenannten „Wasserschläger“ dabei. Das sind Gesangsmeister, denen er Koloraturen anzüchtet und lehrt, die an Geräusche des Wassers erinnern. Sie glucksen und blubbern, lassen die Töne tropfen und plätschern, mal geschlagen, gerollt, gepfiffen, geklingelt oder gehaucht in gut zwölf unterschiedlichen Strophen.
Erst hört der junge Vogel dem Vater zu, dann seinem Vorsänger
Doch wie bringt man einen solchen Tenor dazu, vor Schiedsrichtern zu singen? Dazu gibt es den Trick mit der Decke. Denn Kanarien lieben Licht. Wird es in der Frühe hell, fangen sie an zu jubilieren. Also hüllt man sie vor dem Auftritt in Dunkelheit. „Decke weg, los geht’s.“
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