In Deutschland leben zwischen 250.000 und 500.000 Veganer und etwa 5 Millionen Vegetarier – Tendenz steigend. Kein Wunder also, dass man als Fleischesser durchaus ab und an mit seinem Gewissen hadert und den Begriff der veganen Lebensweise auch oft mit einem eher negativen Gefühl verbindet. „Ja, das verstehe ich gut“, lacht Jennifer Anglim, die zusammen mit ihrem Geschäftspartner Christopher Rempel das Konzept für das Restaurant entwickelt hat und heute nicht nur an vorderster Front, sondern auch hinter dem Herd steht. „Das ist einer der Gründe, warum wir nicht so auf den Begriff ‚vegan‘ fokussiert sind. Wir bevorzugen den Begriff ‚Clean Eating‘.“
Clean Eating – dieser Ernährungstrend, der aus den USA zu uns geschwappt ist, ist zwar schon uralt, liegt aber dennoch voll im Trend. Zusammengefasst könnte man sagen, er ähnelt dem Paleo Prinzip, dem steinzeitlichen Essen: iss, was um dich herum wächst. Hier kommen vor allem regionale, frische Sachen auf den Tisch, die nicht behandelt wurden und somit auch frei von künstlichen Zusätzen sind. Tabu sind industriell gefertigter Zucker und Weißmehl.
Auch für Fleischesser ein Gewinn
Anders als im The Bowl, ist im Ernährungskonzept des Paleo Fleisch ein großer Bestandteil – trotzdem hat sich das Team des Restaurants dafür entschieden ihr fleischloses Konzept auf der diesjährigen Paleo-Messe vorzustellen. Mutig finde ich das, werde von Jennifer aber schnell eines Besseren belehrt. „Wir bieten eine gute Ergänzung an, die auch für Fleischesser ein Gewinn ist – sie müssen sich nur ‚rantrauen'“, erklärt sie mir. „Die Leute kennen es nicht und haben keinen Zugang dazu – und glaub mir, das Essen ist so gut, da muss man niemanden mehr überreden. Deswegen haben wir uns auch ‚Plant based‘ genannt, wir wollten einfach weg von dem Begriff ‚vegan'“, betont Jennifer. „Das ist für die Leute auch immer mit Ersatzprodukten verbunden, Tofu, das schmecken soll wie Fleisch oder Würstchen – so was benutzen wir nicht. Wir wollen Fleisch ja gar nicht ersetzen. Die Natur ist unser Guru!“, lächelt sie fröhlich.
Jennifer kennt sich aus mit dem Prinzip – sie hat nach einer Rohkostausbildung einige Zeit in Los Angeles verbracht und sich da verschiedene Konzepte angeguckt. „In den USA ist das alles ein bisschen weiter. Da gibt es verschiedene Läden an jeder Ecke, Rohkost, Clean Eating, vegan. Eigentlich kann man in jeder Bäckerei für ein paar Dollar mehr ein glutenfreies Brot kaufen – und das ist ganz normal. Hier stößt man eher auf fragende Gesichter – glutenfrei? Was ist das? Dabei haben wir überall Bio-Restaurants, Bio-Hotels und sogar Bio-Supermärkte. Ich wollte ohnehin ein Restaurant eröffnen, es ist nämlich gar nicht so leicht als Veganer essen zu gehen!“, grinst sie.
Jennifer erzählt gerne und mit Begeisterung von ihrem Konzept und schafft es, mich alleine durch die Erzählung ebenso in den Bann zu ziehen wie das Pärchen am Nebentisch, die man eher an der Currybude gegenüber vermuten würde als in einem veganen Restaurant. Jennifer lacht entwaffnend und bemerkt: „Ja, das ist wirklich erstaunlich. Wir merken immer mehr, dass die Leute richtig Bock darauf haben und wir die unterschiedlichsten Gäste begrüßen dürfen, die sich nicht vom Begriff ‚vegan‘ abgeschreckt fühlen. Bisher war der Zugang einfach nicht da – klar, die Menschen hätten zuhause selbst lang und aufwändig kochen und sich die Informationen darüber mühevoll zusammen suchen müssen. The Bowl ist da in der Berliner Restaurantszene ein Novum, denn Bio sind viele, aber beim Clean Eating sind wir die Vorreiter.“ Und nicht nur das.
So sieht’s aus
Schick, irgendwie stylisch und trotzdem liebevoll bis ins kleinste Detail präsentiert sich das Restaurant über dem Veganz an der Warschauer Straße im ersten Stock. Durch die großen Fenster an der Glasfront kann man das geschäftige Treiben draußen beobachten und die flaschenförmigen Hängelampen geben dem Raum eine angenehme Luzidität, die jedoch nicht so gewollt aussieht wie man das von anderen Szenerestaurants kennt. Szenerestaurant? Ja, das ist The Bowl tatsächlich, wenngleich das Publikum an den Tischen nicht bunter gemischt sein könnte – vom „Sehen-und-gesehen-Werden“ der Berliner Gastroszene keine Spur.
Die Tische sind zum Teil liebevoll gekachelt und mit bunten Fliesen versehen, die man eher in einem türkischen Hamam erwarten würde. Kombiniert wurde hier mit hell gebeiztem und dunklem Holz, Metall und großen Kreidetafeln, an denen die Credos des The Bowl in bunter Kreide stehen ohne überheblich oder aufdringlich zu wirken. Fast ein bisschen Mainstream. „Das darf es ruhig sein“, erzählt Jennifer. „Es ist doch gut, wenn sich die Leute anfangen Gedanken darüber zu machen, was sie eigentlich essen und selbst merken, was davon gut für sie ist. Wir müssen niemanden „missionieren“ – jeder, der sich darauf einlässt merkt selbst, wie eine „Bowl“ auf ihn wirkt. Wenn die Leute das gegessen haben sagen sie ganz oft ‚Ach quatsch, DAS ist vegan?'“
Alles in einer „Bowl“
Dieser Ansatz, der den Einklang von Körper, Geist und Natur aufgreift und auf eine sehr sympathische Weise im The Bowl präsentiert wird, zeigt sich aber vor allem an einem Ort: auf dem Teller. Oder besser gesagt in der Schüssel. Denn wie der Name schon verrät wird hier jedes Gericht in einer „Bowl“ serviert. Hier folgt die Zusammenstellung einem ganz einfachen Prinzip. „Jede Bowl enthält drei oder vier verschiedene Gerichte“, erklärt Jennifer. „Oder genauer gesagt: in jeder Bowl finden sich verschiedene Komponenten, die nach einem bestimmten Motto liebevoll arrangiert wurden. Natürlich finden sich auch in jeder Bowl verschiedene Geschmacksrichtungen, verschiedene Salate und ein bestimmter Raw-Food-Anteil und dann entweder Quinoa oder Wildreis. Aber je nachdem unter welchem Motto die Bowl steht – zum Beispiel die Mexican Bowl, die California Bowl oder die Falafel Bowl – alles folgt einer bestimmten Linie und wurde liebevoll arrangiert und ertüftelt“, erklärt Jennifer.
Sie lehnt sich zurück, nippt an ihrem Kombucha und erzählt beinahe verschwörerisch weiter: „Weißt du, es ist doch immer so, dass man auf den Teller seines Sitznachbarn schielt und sich denkt ‚Och, das hätte ich aber eigentlich jetzt auch gern!‘. Und mit einer Bowl hat man die Möglichkeit, viele verschiedene Sachen auszuprobieren. Klar, wenn jemand bestimmte Elemente zusätzlich haben möchte, können die natürlich wie die spanischen Tapas bestellt werden.“
Ich bestelle eine California Bowl, von deren Komponenten ich, wenn überhaupt, bisher nur gelesen habe, und bin begeistert. Hauptelemente finde ich hier keine, aber dafür viele kleine, angenehm platzierte Portiönchen verschiedenster Zutaten, die es in meinem „Futternapf“ zu entdecken gilt. Zitroniger Quinoa, Süßkartoffel, die – obwohl sie frittiert wurde – nicht vor Fett trieft und mit Sesam panierte Avocadoscheiben. Dazu bekomme ich eine spannende Salsa aus Tomaten und Koriander, die ich in Ermangelung einer Betriebsanleitung mit allem kombiniere, was ich in meiner Bowl finde und dann gespannt darauf warte, wie die Geschmacksknospen in meinem Mund wohl zu dieser neuen Erfahrung sagen.
Einfach – erfolgreich
„So ist es auch gedacht“, so Jennifer. „Man soll entdecken dürfen, neugierig sein. So macht essen doch am meisten Spaß oder? Ich finds schwachsinnig jeden von meiner Lebensweise überzeugen zu wollen. Nicht jeder muss vegan leben, man sollte einfach unvoreingenommen alle Sachen mal ausprobieren und selber gucken, was einem gut tut. Was mich besonders freut ist, dass auch viele ältere Leute kommen, viele Familien, von denen man es gar nicht so erwarten würde – und alle zufrieden wieder gehen. Wer hätte das gedacht, dass das einfache Konzept des bewussten Essens über hundert Sitzplätze jeden Tag füllen würde?“
Sicher ist jedoch: ich für meinen Teil kann und möchte nicht dauerhaft ohne Fleisch leben, aber ich kann mir gut vorstellen, von Zeit zu Zeit darauf zu verzichten. Oder öfter mal eine Bowl zu bestellen. Ich fühle mich besser, irgendwie gesünder und satt. Ob das nur am Essen liegt oder vielleicht daran, kulinarisch was Neues probieren zu können ohne mich wie der dümmste Esel auf dem Planeten zu fühlen – ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall bin ich jedoch davon überzeugt, dass „Clean Eating“, die erwachsen gewordene große Schwester der veganen Lebensweise, sicher noch mehr Leute wie mich anziehen wird, die dann vielleicht am Nebentisch sitzen und ebenso gespannt auf ihre Bowl warten.