Es ist laut. Die vierspurige Straße ist stark befahren. Zwischen den Autos schlängeln sich Fahrradfahrer durch den Verkehr. Alle 30 Sekunden fährt ein Bus vorbei. Parallel zur Straße verlaufen die S-Bahngleise zwischen Westkreuz und Zoologischer Garten. Immer wieder sieht man sie zwischen den Häuserschluchten vorbeirauschen – als würde sie versuchen einen Blick auf diese besondere Straße zu ergattern. Es ist Berlins Boulevard der Migranten.
Auf der Suche nach politischer Freiheit
Im Frisörsalon von Hamid Nosrati ist die Musik stets auf voller Lautstärke aufgedreht. Hüpfend, tanzend und singend empfängt er seine Kunden zu Pop-Klängen der 90er Jahre. „Ich mag keinen Standard“, sagt der Frisör und Stylist. Seine Kleidung ist auffällig: Er trägt ein Netzshirt, eine bunte Leggings, Sonnenbrille und überall an seinen Armen und Händen glitzert es – Hamid Nosrati ist kein Standard.
Seit bereits acht Jahren betreibt er seinen Salon auf der Kantstraße. Davor lebte er in Los Angeles, in Texas, auf Mallorca, doch hier fühle er sich wirklich zu Hause. „Ich fahre nach Feierabend gerne mit dem Fahrrad über die Kantstraße. Sie ist lebhaft, laut, hier vermischt sich alles. Hier kann ich ich sein.“
Im Hedayat, dem Haus der Kunst und Literatur, unweit von Hamids Salon, verkauft der Autor Abbas Maroufi persische und orientalische Literatur. Er verlegt Bücher und druckt damit gegen die Zensur in seiner Heimat an. Im Iran kritisierte er kriminelle Missstände der Regierung und die politische Unfreiheit. Als Volksverräter angeklagt, floh er nach Deutschland. Heute ist Berlin sein Zuhause und die Kantstraße ein wichtiger Teil seines Lebens. Auch der bekannte Carl von Ossietzky gab in dieser Straße seine „Weltbühne“ heraus. Bis heute erzählt dieser Ort Berlins Geschichten von politischer Verfolgung und der Suche nach Freiheit.
Das frühere Handelszentrum West-Berlins
In den 80er Jahre war die Kantstraße das Handelszentrum West-Berlins. Großhändler verkauften hier Elektrogeräte, Kleidung, Parfüm – viele Dinge wurden von hier aus in den Osten geschmuggelt. Es war eine Zeit, in der West-Berlin eine abgeschottete Insel mitten in Deutschland war. Rund um die Kantstraße versammelten sich Menschen aus der kritischen Kultur- und Musikszene. Bis heute erinnern Orte wie das Kant Kino, das Schwarze Café oder die Paris Bar an diese Zeit. Sie sind erhaltene Institutionen der Vergangenheit.
„Little China Town“
„Zwölf Jahre war ich Vorsitzender der chinesischen Gesellschaft in Berlin. Ich wollte damals ein China Town gründen, doch wurde mir gesagt, man habe in Berlin schon genügend Probleme mit den Türken und brauche nicht auch noch eine Ansammlung von Chinesen“, sagt Hsien-Kuo Ting. Heute ist die Mitte der Kantstraße, vom Savignyplatz bis zur Wilmersdorfer Straße, Insidern trotzdem als Little China Town bekannt. Nicht zuletzt dank der Nudelsuppe von Hsien-Kuo Ting.
1968 kam er nach Berlin, seit 13 Jahren betreibt er gemeinsam mit seiner Ehefrau das Lon Men’s Noodle House. Jeden Tag werden in dem kleinen Laden Spezialitäten aus Taiwan zubereitet – der Heimat von Tings Familie. Das Rezept der bekannten Nudelsuppe kennt nur seine Frau. „Sie hütet das Rezept so wie Coca-Cola seines.“ Früher kam Helmut Kohl zum Essen vorbei, heute bekannte Schauspieler wie Lars Eidinger. Lon Men’s Noodle House ist ein Ort, wo sich Menschen verschiedenster gesellschaftlicher Schichten und Nationalitäten treffen.
Gelebte Integration auf der Straße
Ting ist der Überzeugung, dass die Integration der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge gelingen kann. Als Voraussetzung sehe er die Sprache: „Wer die Sprache erlernt, wird auch einen Job finden und sich integrieren können.“ Die Kantstraße sei ein Beweis dafür, dass dies funktioniere. So sieht es auch Soner Gözüdok, der gemeinsam mit seiner Frau den Obst-Gemüse-Laden Mandalina betreibt.
Die sind die zweite Generation der Gastarbeiter aus der Türkei. Als ihre Eltern nach Berlin kamen, wurden sie mit Blumen empfangen: „Die ersten Einwanderer galten noch als exotisch und es war aufregend, sie kennenzulernen. Meine Eltern wurden hier toll aufgenommen.“ Heute hätten die Menschen Angst vor der Masse an Menschen, die nach Deutschland kommt. „Wir persönlich hatten nie irgendwelche Probleme. Auf der Kantstraße sowieso nicht. Hier scheint die Integration und Toleranz zu klappen.“