„Berlin, nun freue dich!“ Dieser Satz, der berühmteste, stand nicht im Manuskript. Die Öffnung des Brandenburger Tores stand an, ein Ereignis von historischer Symbolik. Berlin, Deutschland, die Welt fieberte dem entgegen, und die Redenschreiber hatten Walter Momper, dem Regierenden Bürgermeister, selbstverständlich schon die passenden Worte vorbereitet. Aber er und auch sie fühlten: Die Rede hatte „kein vernünftiges Ende“, wie er heute sagt, da fehlte noch irgendwas – ein gelungener Schlusssatz, ein zündendes Bonmot, etwas in der Richtung. Noch während die Veranstaltung schon lief am Nachmittag des 22. Dezember 1989, grübelte Momper darüber nach, und plötzlich hatte er’s: „Berlin, nun freue dich!“
Momper erinnerte sich an ein Zitat aus einem Buch
Eine legendentaugliche Genese, die an die von Kennedys „Ich bin ein Berliner“ erinnert, was ebenfalls nicht im Manuskript stand und erst kurz vorher vom Präsidenten eingefügt wurde. Es war eben ein großer Tag, der Freitag vor 25 Jahren, da liegen solche Gedankenblitze in der Luft. Die übrigens sehr unpathetisch von hoher Feuchtigkeit durchtränkt war: Die Toröffnung war zunächst einmal ein Fest der aufgeklappten Regenschirme.
Kohl und Modrow hatten die Öffnung vereinbart
Sie war erst am 19. Dezember zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow bei einem Treffen in Dresden vereinbart worden, vorerst gültig für Fußgänger. Freie Durchfahrt für Autos hatte der Ost-Berliner Magistrat schon Wochen vorher abgelehnt: Das Tor sei museal, sie könnten den Bau beschädigen. Aber diese Einschränkung war für die TV-Teams mit ihrem Wagenpark ohnehin zweitrangig, die sich auf der Westseite in fröhlichem Chaos niedergelassen hatten und nur mühsam auf eine Tribüne umgesiedelt werden konnten. Alle wollten die besten Plätze, die Briten – „unser Sektor“ – drohten mit dem Stadtkommandanten, die Amerikaner mit Schadensersatzklagen, die Deutschen pochten auf ihr vermeintliches Hausrecht – Momper hat das sehr hübsch in seinem Buch „,Berlin, nun freue dich!’ – Mein Herbst 1989“ (Verlag Das Neue Berlin) beschrieben. Schließlich entschied das Los.
Die ersten Schaulustigen kamen schon in der Nacht
Erste Schaulustige kamen schon in der Nacht. Eine Kauffrau aus Mülheim an der Ruhr etwa, die eigens angereist war und seit 4.30 Uhr wartete, schließlich werde hier „deutsche Geschichte geschrieben“. Oder ein Maschinenbauer aus Leipzig, der im Westen ausharrte, „weil man hier besser sehen kann“. Eine unrealistische Hoffnung angesichts des gesamtdeutschen Chaos, zu dem sich die Grenzöffnung entwickeln sollte.
Das ging schon los, als Kohl und Momper kurz vor 15 Uhr vom Reichstag aus zum Tor aufbrachen, um an der Ausreisestelle von Modrow und Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack begrüßt zu werden. Ein überschaubarer Kreis von Würdenträgern, die auf einem kleinen Podest auf dem Pariser Platz erst reden, dann das Tor öffnen sollten, so war es geplant, doch Kohl und Momper folgten bereits rund 100 Personen. „Kaum ein Bonner Kabinettmitglied, kaum ein halbwegs prominenter Politiker, der nicht bei diesem historischen Ereignis dabei sein wollte“, schreibt Momper.
Die Polizei hatte hüben wie drüben Absperrgitter aufgestellt, hinter denen sich jeweils Zehntausende drängelten. Auf dem Pariser Platz war dies erst kurzfristig zugelassen worden, außer dem niedrigen Gitter hielten dort nur ein knappes Dutzend Volkspolizisten die Menge mit Mühe auf Abstand. Früher hätte das wahrscheinlich genügt, jetzt aber …
„Chaos machte Kontrolle unmöglich“, hieß es tags darauf im Tagesspiegel. „Ich hatte kaum die Rede beendet, als auf dem Platz das totale Chaos ausbrach“, schreibt auch Momper. Die Offiziellen hatten sich gerade erst bei der „Ausreise“ getroffen, da wechselten schon die ersten Ost-Berliner per Laufschritt in den Westen, drängten bei der „Einreise“ die West-Massen gen Osten. Ob die Reden wirklich von vielen verstanden werden? „Was im Einzelnen gesagt wird, versteht kaum jemand“, befand einer der entsandten Tagesspiegel-Reporter.
Als Erstes gaben die Ost-Polizisten sich geschlagen, wurden ihre Gitterchen einfach überrannt. Weiter ging es durchs Tor und zur Mauer, und nun kannte auch die Menge im Westen kein Halten mehr. „Das Durcheinander ist vollkommen“, las man im Tagesspiegel. „Rauf auf die Mauer, runter von der Mauer. Einmal durch das Brandenburger Tor und zurück. Silvesterkracher explodieren. Fahnen werden geschwungen.“
Kohl, lautstark mit „Helmut, Helmut“-Rufen gefeiert, dürfte es da doch etwas eng geworden sein, den Sicherheitsleuten erst recht. Die Politprominenz zog sich erst in eines der Wachhäuschen zurück, schlug sich dann zum Reichstag durch, eine „Tortur“ nach Mompers Erinnerungen. Dem erschien es nachträglich als „Wunder, dass an jenem Tag mit den zigtausenden Menschen, die von beiden Seiten durch das enge Brandenburger Tor drängten und dort aufeinanderprallten, nichts Schlimmes passiert ist“. Nur 80 mal Erste Hilfe wegen Kleinigkeiten, 21 Personen, die ins Krankenhaus mussten, wegen Atemnot, Panikattacken, Schwächeanfällen. Zu Silvester sollte es schlimmer kommen.