„Ich verstehe gar nichts mehr! Ich brauch mehr Kottinuität!„– dieser Satz mitten im Stück kann als Schlüsselsatz verstanden werden. Eine literarische Metareflexion, ein selbstreflexiver Kommentar zur eigenen Poetik. Wem es jetzt schon zu kompliziert wird, der lässt am besten die Hände vom Text, den Autor Jörg Albrecht 2009 als Theaterstück auf die Bühne brachte. Denn: Der Text ist alles andere als gefällig. Zusammenhänge müssen assoziiert werden, Fragezeichen haben Konjunktur, eine Runde Start-Schluss-Geschichte gibt es nicht.
„Wenn ich was sage, kannst du mir versprechen, dass du aufhörst, die Stadt als ganze erfassen zu wollen, als kollektives System, das eindeutig bestimmbar ist?„, fragt ein fragmentär umrissener Protagonist an einer Stelle. Damit sind die zentralen Fragen gestellt, um die das Stück kreist: Was ist die Stadt? Woraus setzt sie sich zusammen, wie ist sie zu begreifen? Und: Wer bestimmt darüber? Wem kommt in diesem Diskurs die Deutungshoheit – und damit die Macht – zu? Statt Fragen zu beantworten, stellt der Text Fragen. Und genau das ist seine Qualität.
Abrissbirne meets Geschichte
Grob verhandelt das Stück den Ausverkauf von Kreuzberg 36. Bands treten lieber in crazy Zehlendorf als in snobby Kreuzberg auf, Multikulti gibt’s nicht mehr, kurz : „Kreuzberg 36 leert sich, und jetzt ist der Kotti tot.“ Autor Albrecht erzählt von einem sterbenden Mythos, im Jahr 2029 ist das Kottbusser Tor kein „Gewimmelort“ mehr, wie er es im Vorwort nennt. Statt dessen lauert die „Richie-Rich-Mentalität“ an jeder Ecke, im ollen Malocherbezirk lebt nur noch, wer es sich leisten kann. Es geht um den Abriss von Häusern und gleichzeitig um viel mehr. Fassaden stürzen ein, Abrissbirnen verleugnen die Geschichte des Bezirks und schlagen sie in Stücke.
Eine riesige Großstadtneurose
Immer wieder wird deutlich: Das Stück kommentiert sich ständig selbst. Denn was im Text fehlt, das ist die Kotti – pardon, Kontinuität. Und das ist nur konsequent: Wie ein Großstadtneurotiker dreht sich das Stück über weite Strecken um die eigene Achse. Als Zugabe gibt es allgemeingültige Fragen zum Leben in der Großstadt, zum leben in Berlin. Alles wirkt sperrig. chaotisch, klotzig.
Uraufgeführt wurde das Stück übrigens 2009 im West Germany, einem Urban-Art-Space. Betrieben von einem Künstlerkollektiv, direkt am Kotti. Im Sommer gaben die Betreiber bekannt, dass das West Germany Ende des Jahres dicht machen wird. Hat der Ausverkauf vom Kotti nicht schon längst begonnen? Plötzlich hat nicht nur der Großstadt-Neurotiker viele Fragen.
Der Kotti von Jörg Albrecht. Bebraverlag 2015, 130 Seiten, 9,95 Euro.