Es ist schon länger ein Trend: Urbane (Hobby-)Fotografen besuchen Lost Places, lange leerstehende, verfallende Gebäude und Örtlichkeiten, um dort spannende Motive zu finden. Spätestens seit dem Siegeszug von Instagram gibt es auch eine Plattform, auf der die entstandenen Fotos einer großen Zahl von Menschen präsentiert werden können. Die Ästhetik des Verfalls, die Besitzergreifung durch die Natur, aber sicher auch das leicht Verbotene und der Ruhm des Entdeckens beim Fotografieren machen den Reiz solcher Bilder aus.
Mit dem Auge des Historikers
All das spielt für Robert Conrad allenfalls eine untergeordnete Rolle. In seinem Buch Vergessene Orte in Berlin und Brandenburg siehst du zwar auch viele ästhetische Bilder, etwa Blickachsen durch Gänge und geöffnete Türen. Doch dem in Rostock und Greifswald aufgewachsenen Conrad, Jahrgang 1962, geht es in erster Linie um etwas anderes. Als Architekturfotograf und Bauhistoriker interessiert ihn, wie sich der Lauf der Geschichte in den Bauten ausdrückt, sich ihrer bemächtigt. So stehen etwa auf einem seiner Fotos vom Militärgefängnis in Schwedt alle Türen offen: Der Bau hat seine Funktion für die DDR-Armee verloren, die Freiheit ist da. Die aber auch mit sich bringt, dass viele Zeugnisse früherer Epochen in der Region verfallen.
Insofern ist der Ansatz von Robert Conrad auch ein dokumentarischer: Er zeigt was noch da ist. Denn nicht jedem seiner vergessenen Orte steht unbedingt eine Zukunft bevor, die die Erinnerung bewahrt. Conrad erzählt im Bildband auf einer Seite pro Ort dessen Geschichte und man erfährt auch, was die jüngsten Entwicklungen sind. Manche der Lost Places sollen denkmalgerecht weiterentwickelt werden, bei manchen ist das schon geschehen, bei anderen steht es noch in den Sternen. Nach den Einführungstexten folgen jeweils mehrere Seiten mit Bildern. Hier geht es nicht um den freakigsten Shot, sondern um eine Bildkomposition, die Eindrücke vermittelt und die Fantasie anregt. Ästhetisch sind Conrads Bilder trotzdem.
Vom Teufelsberg bis Wilhelmshagen
Berlin ist mit 19 Orten vertreten. Darunter sind neben dem Flughafen weitere bekannte Bauten wie die Avus-Tribünen oder die Radarstation auf dem Teufelsberg. Doch Fotograf Conrad findet an solchen Plätzen neben geläufigen Motiven auch ungewohnte Seiten und Blickwinkel. Und er sucht die Orte auf, die wirklich ziemlich „lost“ sind. Wer weiß etwa, wo sich die Kaserne der Berliner Grenztruppen befand? Wohl vor allem die Köpenicker – die genaue Antwort lautet: in Wilhelmshagen. Es ist also ein dreifacher Reiz, der von Vergessene Orte… ausgeht: Man lernt diese Orte kennen, erfährt von ihrer geschichtlichen Bedeutung und kann dank Robert Conrads starker Fotos – wenn man sich darauf einlässt – sogar ein wenig spüren, wie es sich anfühlt, dort zu sein.
„Vergessene Orte in Berlin und Brandenburg“ von Robert Conrad ist im Mitteldeutschen Verlag zum Preis von 25 Euro erschienen. Du kannst es hier