Bundespräsident auf Kiez-Tournee

Stadtteil-Vater Joachim Gauck

Hauptsache Demo. Trillerpfeifen und Spruchbänder gehören in Kreuzberg dazu. Von "Kriegstreiber" bis "Antikommunist" reichten die Schlachtrufe bei der Demonstration gegen Bundespräsident Gauck.
Hauptsache Demo. Trillerpfeifen und Spruchbänder gehören in Kreuzberg dazu. Von "Kriegstreiber" bis "Antikommunist" reichten die Schlachtrufe bei der Demonstration gegen Bundespräsident Gauck.
Neukölln / Wedding / Kreuzberg - Bundespräsident Joachim Gauck besuchte ehrenamtliche Initiativen – zum Beispiel die Stadtteilmütter im Interkulturellen Kinder- und Elternzentrum. Ihre engagierte aber finanziell ständig gefährdete Arbeit begeistert ihn. Er will ihr Verbündeter sein.

Nabila verliert vielleicht bald ihren Job. Da ist es gut, dass Bundespräsident Joachim Gauck herbeigeeilt kommt an diesem windigen Mittwochmorgen, vorbei an Dschungelspielplatz und Totempfählen, an seiner Seite Partnerin Daniela Schadt und Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky. Für einen „Thementag Integration und gesellschaftliche Vielfalt“ hat er sich zum Auftakt ein Gespräch mit Stadtteilmüttern in Neukölln gewünscht im Interkulturellen Kinder- und Elternzentrum am Tower am Rande des Tempelhofer Feldes. Nabila und ihre Mitstreiterinnen aus Serbien, Burkina Faso, Ungarn und der Türkei tragen die dunkelroten Schals, an denen die Stadtteilmütter zu erkennen sind. Seit zehn Jahren gibt es dieses Projekt, in dem Frauen unterschiedlicher Herkunft, Familien Hilfe anbieten, die Vorbehalte gegen Behörden haben und sonst niemanden an sich ranlassen.

Nabila erzählt in gutem Deutsch, dass sie seit neun Jahren hier lebt, eine Tochter hat, in ihrer Heimat Marokko ein Jurastudium abgeschlossen hat, ihr Mann Iraker ist und die Familie auch schon mal in Libyen gelebt hat. Deshalb kennt sie verschiedene arabische Dialekte. Ideale Voraussetzungen, um in „gesellschaftsfernen Familien“ die zehn Themen der Stadtteilmütter hineinzutragen, unter anderem Spracherziehung, gesunde Ernährung, Suchtvorbeugung und Umgang mit Fernsehen und Computer. Auch Christina aus Rumänien stellt sich vor, eine Mutter von sieben Kindern, die sich um Roma und Sinti kümmert. Gauck ist beeindruckt. Wie sie neben der Familie noch Zeit finde für die Arbeit, fragt er. „Ich wollte mal was für mich tun“, sagt die Frau. „Solche Beispiele brauchen wir“, sagt der Bundespräsident begeistert. Es gefällt ihm, dass hier niemand klagt.

Für die Politik ist Buschkowsky zuständig.

Buschkowsky erzählt, dass die Mittel für dieses Projekt bald wegfallen, dass es vom guten Willen des zuständigen Behördenmitarbeiters abhing, ob die Mütter weitermachen dürfen, weil sie im Rahmen von Beschäftigungsmaßnahmen vom Jobcenter bezahlt werden. „Das darf nicht sein“, sagt der Bundespräsident fest. „Hier haben Sie mich als Verbündeten.“ Wenn die Bio-Deutschen nicht einen neuen Babyboom entwickelten, liege die Zukunftsfähigkeit der Deutschen darin, in einem Einwanderungsland zu leben. Dass in diesem Viertel 450 Kitaplätze fehlen, alarmiert ihn bei allem geäußerten Stolz auf die positiv denkenden Frauen ebenfalls. Vielleicht ist Nabilas Job mit etwas Fürsprache doch noch zu retten. Beim Abschied bekommt Daniela Schadt den Schal der Stadtteilmütter ehrenhalber geschenkt.

Demonstranten skandieren: „Gauck an die Front“

Weiter geht’s nach Wedding. In der Bibliothek des Luisenbads stimmt Kulturstadträtin Sabine Weißler auf die Kontraste des Bezirks zwischen Kunst und Zerfall ein. Der polnischstämmige Schriftsteller Paul Bokowski liest lustige Passagen aus seinem Buch „Hauptsache nichts mit Menschen“. Gauck ist schon wieder begeistert, diesmal über den „tollen Heimattext“. In der offenen Diskussion mit den Zuhörern kristallisieren sich die zwei großen Probleme heraus: Armut und Mangel an Sprachkenntnissen. Auch aus dieser Diskussion nimmt er etwas mit: „Ehrenamt ist gut, darf die Politik aber nicht entlasten, wo sie Herausforderungen annehmen muss.“

Am Nachmittag steht dann Kreuzberg auf dem Programm. Eigentlich soll eine Fotoausstellung über die 1. Mai-Demonstrationen dem Bundespräsidenten bei der historischen Einordnung des Ortes helfen. Fürs authentische Kreuzberg-Gefühl finden sich aber auch live Demonstranten ein und skandieren: „Gauck an die Front“. Der lässt sich nicht irritieren, sondern diskutiert mit Vertretern hoch gelobter Integrationsprojekte wie DeuKische Generation e.V. und Heroes darüber, was es eigentlich heißt, deutsch zu sein. Und beim Abschied verspeist er spontan einen Döner.

Am Abend hatte Gauck zu einer Soirée ins Schloss Bellevue geladen, auf die sich unter anderem die Autorinnen Alice Bota, Khue Pham und Özlem Topcu sowie das Klavierduo Sonja und Shanti Sungkono vorbereitet hatten. Ausdrücklich wollte Gauck an diesem Tag nicht Zahlen und Statistiken begegnen, „sondern Menschen, deren unterschiedliche Lebensgeschichten dieses Land prägen.“


Quelle: Der Tagesspiegel

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