Viele Neuberliner wohnen in der Choriner Straße, die sich von Mitte bis zur Oderberger Straße erstreckt. Einer dieser Anwohner ist Norbert Kuchinke, ehemals Moskau-Korrespondent beim „Spiegel“, Sammler von Ikonen und – zumindest in Russland – Filmstar. Das Haus Nummer 20 hat Kuchinke 1998 gekauft. Es ist Symbol für alles, was die Choriner Straße kennzeichnet: Neu verputzte Fassade, grasgrüne Haustür, im Ladenraum links sitzt ein Büro mit Filmmachern, rechts ein Verein für Kitaprojekte. Darüber wohnt Kuchinke.
Morgens sieht man junge Leute mit vollbesetzten Kinderanhängern die Straße entlangradeln und vor der Waldorf-Kita parken. In den Ladengeschäften haben sich Kreative, Schreiber, Medienleute eingemietet, „Architekten-Strich“ nennen manche die Straße hämisch. Die Choriner Straße, einst eine graue, lärmende Durchgangsstraße, aus der man schnellstmöglich flüchtete, ist heute überaus beliebt im Kiez.
Blick auf sieben Kirchen
Gelegentlich bleiben Spaziergänger vor Kuchinkes Haus stehen und sehen hinauf. Schon immer gab es eine Durchfahrt zwischen der Choriner Straße 20 und dem Nachbarhaus, Lieferanten konnten so auf die Hinterhöfe der kreuzenden Schwedter Straße gelangen. Das Architektenteam Hoyer Schindele Hirschmüller, das den Umbau des Gebäudes übernahm, überredete den neuen Besitzer, den Luftraum über der alten Hofdurchfahrt zu kaufen und hängte drei aufeinandergestapelte Kuben mit riesigen Fensterfronten zwischen die beiden Häuser. So lebt Kuchinke jetzt gleichzeitig im Alten und im Neuen.
Dort, wo die vierte Etage in das Dachgeschoss übergeht, sind die Räume sechs Meter hoch. An den Wänden hängen zahlreiche Bilder der russischen Avantgarde und Ikonen, die teilweise aus dem 14. und 15. Jahrhundert stammen. Der Journalist hat sie gesammelt, in Russland und den einstigen Ostblock-Ländern. Besuchern zeigt er gern die Terrasse. „Sieben Kirchen sieht man von hier oben“, sagt er, sein Blick schweift: Berliner Dom, Immanuel- und Marien-Kirche, Zionskirche, jüdische Synagoge, Herz-Jesu-Kirche. „Wenn die Sonne auf das Kreuz der Segenskirche scheint, leuchtet es direkt hier rüber“.
Ehemaliger Wohnungspreis: 60 Ostmark
Trennlinien verlaufen quer über die Straße. In einem Nachbarhaus auf der anderen Seite leben Gerd und Kalle, beide seit über fünf Jahrzehnten. Wie es hier früher war? Die Antwort kommt prompt: ganz anders! Eine echte Berliner Straße sei das gewesen. „Klempner-Straße“ wurde sie genannt, wegen der vielen Klempner, Schrauber, Glaser. Eine Wohnung kostet 60 Ostmark, eine Zeitung 15 Pfennig, auch mit kreativen Berufen, wie Gerd und Kalle sie haben – der eine ist Grafiker, der andere arbeitet am Theater – konnte man gut leben. Dass die Freiberufler, die heute in der Choriner Straße wohnen und arbeiten, um jeden Euro kämpfen, nichts anderes wollen und sich dabei sogar noch frei fühlen, ist ein Grund, warum sie mit den neuen Nachbarn nichts gemeinsam haben.
Schon einmal hat die Choriner Straße einen Immobilienboom erlebt: 1868, als die Berliner Stadtmauer abgetragen wurde. Bis 1910 wurde die Straße annähernd komplett bebaut. Wohnraum wurde dringend benötigt. Die Menschen kamen von überall nach Berlin. Nicht nur die Mischung der Berufe und Schichten war vielseitiger als heute. 1932 waren elf Prozent der Bewohner der Choriner Straße Juden. Dort, wo jetzt die Waldorf-Kita steht, befand sich die „zentrale Kleiderkammer der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“. Von neun bis zwölf Uhr konnten sich dort Bedürftige Wäsche, Schuhe oder Bettfedern besorgen. Im September 1941 mussten Juden aus den Bezirken Prenzlauer Berg, Pankow, Wedding und Reinickendorf ihre gelben Sterne gegen Zahlung von 10 Pfennig in der Turnhalle der VI. Jüdischen Volksschule in der Choriner Straße 74 abholen.
Gegenentwurf zur DDR-Wirklichkeit in den Siebzigerjahren
In den Siebzigerjahren war der Verfall der Altbauten kaum zu stoppen. Der Leerstand zog Menschen an, die anders leben wollten. „Das Besetzen von Häusern hatte am Prenzlauer Berg weniger eine politische Dimension, sondern man benötigte den Raum, um sich von den Eltern abzunabeln und um seinen künstlerischen Ambitionen nachgehen zu können“, schreibt Frank Böttcher in seinem Buch „Durchgangszimmer Prenzlauer Berg“. Die Menschen lebten einen Gegenentwurf zur DDR-Wirklichkeit – ein Lebensentwurf, der den Mythos begründete, der später so viele nach Prenzlauer Berg zog.
Heute stehen Boogaboo-Kinderwagen und Bio-Milch für die Choriner Straße. Antonia Coenen, eine Produzentin von Dokumentarfilmen, teilt sich das Erdgeschoss-Büro in der Choriner Straße 20 mit drei Kollegen. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie auf Bio-Milch Wert legt und gern beim Italiener an der Ecke mittags essen geht. Die gebürtige Kölnerin, die 2006 nach Berlin kam, arbeitet hier, weil alle ihre Freunde hier leben. Bei Gerd und Kalle aus dem Nachbarhaus ist es genau umgekehrt: Ihre Bekannten sind fast alle weg. „Es ist ein angenehmes, komfortables Leben“, sagt Coenen, „aber nicht das echte Leben.“