Die Filmstudios in Babelsberg feiern in diesem Jahr ihren 100.Geburtstag. Geplant sind Jubiläumsfeiern, Sondersendungen und Sonderausstellungen. Doch was ist mit Weißensee, das einmal Klein-Hollywood genannt wurde? Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es den Pionieren des Films in den kleinen Berliner Dachateliers zu eng, also zogen sie weg, in die Außenbezirke der Stadt. So sind die Studios in Babelsberg entstanden, aber auch die in Weißensee. 1913 hatten sich an der damaligen Franz-Joseph-Straße, die heute Liebermannstraße heißt, mehrere Filmgesellschaften angesiedelt.
Auf den Ateliergrundstücken wuchsen Kulissen empor: Tempel, Paläste und tropische Gärten. Die Weißenseer Rennbahn wurde für die Historientrilogie „Veritas vincit“ von Max Mack in den Circus Maximus des alten Roms umgebaut. Es gab mehrere Kintopps, die Kneipen hatten Hinterzimmer, in denen Filme gezeigt werden konnten. Weißensee, das war mal ein Zentrum der Filmwirtschaft, bis zum Ende des Stummfilms.
Partys, Filme und Theater
Nichts ist davon übrig. Außer einem leerstehenden Filmtheater, das kaum einer kennt. Wer würde hinter einer grauen, unscheinbaren Fassade in der Gustav-Adolf-Straße schon ein Kino vermuten, das Stummfilmkino Delphi? Es ist ein Schatz, ein Relikt, fast noch im Originalzustand von 1929. Ende der fünfziger Jahre wurde das Kino geschlossen und später als Lager, Wäscherei und Briefmarkengeschäft genutzt. Vor einigen Jahren hat es einer gekauft, der den alten Charme bewahren will und es für Feiern und Film- und Fernsehaufnahmen vermietet. Im Herbst soll „Das Kind“ anlaufen, ein Thriller mit Ben Becker und dem US-Schauspieler Eric Roberts, „der wurde auch hier gedreht“, sagt Besitzer Andreas Jahn.
Auch der Schauspieler und Theatermacher Nikolaus Schneider stand eines Tages dank einer privaten Partyeinladung in dem hohen Raum mit Gewölbe, sah die geschwungenen Balustraden der Ränge, das Proszenium, wo einst die Filme über die Leinwand flimmerten, und den Orchestergraben. Er war fasziniert von dem nostalgischen Charme und dachte: „Hier möchte ich einmal ein Stück inszenieren.“ Und so kommt es auch.
„Exposure Berlin“ heißt die Produktion, die Anleihen bei der Zeit der Stummfilmklassiker und den Surrealismus macht, frei nach dem Bühnenstück „Les Mamelles de Tirésias“ von Guillaume Appollinaire. „Das ist eine moderne Gendergeschichte“, findet der 29-jährige Schneider, der das Stück zusammen mit Brina Stinehelfer entwickelt hat, gemeinsam nennen sie sich „Per Aspera“. Stinehelfer kommt aus New York. Ihr Stück „Skype-Duett“ wurde im 2011 auf dem 100-Grad-Festival im Hebbel am Ufer ausgezeichnet. Die 30-Jährige kommunizierte auf der Bühne mit dem Publikum und mit einer Schauspielerin, die in einem Café in Manhattan saß, per Internetchat.
Reminiszenz an einen Ort
Auch dieses Mal werden die beiden Theatermacher mit verschiedenen Medien arbeiten. Ein Kamerateam verfolgt die Spielszenen und überträgt sie live und in Schwarz-Weiß auf die große Leinwand. Ein Orchester spielt auf, ein DJ steuert elektronische Klänge bei, eine Opernsängerin soll wie ein geheimnisvoller Geist auftauchen, eine Videokünstlerin fügt fantastisch-surreale Bilder hinzu. Und weil das Team, das sich Schneider und Stinehelfer aus der freien Szene Berlins zusammengewürfelt haben, so international ist, wird das Stück in drei Sprachen aufgeführt, Deutsch, Englisch, Französisch. Eigentlich sind Schneider und seine Partnerin mit der Probenarbeit fertig, die Premiere war für Januar 2012 geplant. Doch ihnen fehlt das Geld. Also versuchen es die Künstler über Fundraising, der Senat hat ebenfalls Unterstützung signalisiert.
Außerdem veranstalteten Schneider und Stinehelfer im Kino bereits eine „Soirée Absinth“, einen Kultur-Salon-Abend im Stil der Zwanziger. Endlich eine Gelegenheit, das sonst verschlossene Kino von innen zu sehen! Dachten sich wohl auch die vielen Besucher, die über Facebook davon erfahren hatten. Der Abend war nur als Testlauf für das Theaterstück gedacht, um mit dem Ort vertraut zu werden und Gelder für das Projekt zu sammeln, wurde aber ein so großer Erfolg, dass Schneider und Stinehelfer weitermachen.
Die Twenties-Welle rollt an
Im April ist es wieder so weit. Dann werden die beiden Ausschnitte aus ihrem Stück „Exposure Berlin“ zeigen. Denn Premiere wird nun voraussichtlich im Herbst sein. Wer will, schmeißt sich in Zwanziger-Jahre-Schale. „Das ist kein Muss, aber wir fänden es schön“, sagt Brina Stinehelfer. Der Absinth wird fließen und es gibt Musik von Schellack-Platten.
Schon seit längerem gibt es in Berlin die „Bohème Sauvage“-Partyreihe, die an wechselnden Orten die ausgelassene Zeit der Zwanziger zelebriert. In diesem Jahr rollt eine echte Twenties-Welle an: Regisseur Buz Luhrmann („Australia“) dreht gerade in Hollywood eine Romanadaption des „Großen Gatsby“ von 1925, der den Rausch vor der Großen Depression beschreibt. Bei den Golden Globes hat der moderne Schwarz-Weiß-Stummfilm „The Artist“ mächtig abgeräumt. Und die neue Frühjahrs-Sommer-Mode verspricht Art-Deco-Fashion. Gucci oder Marc Jacobs bringen Flatterkleidchen auf den Markt, in denen die Damenwelt stilecht Charleston tanzen könnte. Woher kommt der Trend? Die Zeiten wiederholen sich, glaubt Schneider. „Wir erleben gerade große Unsicherheit“, sagt er. „Alle haben Angst vor der Rezession, da will man sich noch mal schön machen und ausgehen.“