Ein Dach kommt angeflogen. Es landet auf silbernen Stelzen vor dem Hanne-Sobeck-Platz, rechteckig und schlicht und mit neun Jahren Verspätung, aber immerhin ist es da. Der Bahnhof Gesundbrunnen darf jetzt endlich ein richtiger Bahnhof sein und ist nicht mehr eine Ansammlung von Gleisen in der Tiefe, von der oben nur die Stümpfe der Fahrstuhlschächte kündeten. Noch wird gebohrt und gefräst, die Presslufthämmer machen einen Höllenlärm – egal, „alles viel besser, als es je war“, sagt Michael Wolffsohn. Natürlich sei es schade, dass aus ursprünglichen Planungen mit viel Glas, Stahl und Klinker nichts geworden ist, „aber seit Adam und Eva ist der Mensch nun mal aus dem Paradies vertrieben“.
Der einzige ICE-Bahnhof ohne Empfangsgebäude
Alle paar Wochen kommen die Wolffsohns von München aus mit der Bahn angereist und oft genug haben sie sich geärgert über dieses Bahnhofsprovisorium, das die Bahn ihren Kunden und den Anwohnern zur offiziellen Einweihung im Frühjahr 2006 hingestellt hat. War doch gar nicht so lange her, dass die Deutsche Bahn hier mal Großes vorhatte. Ihr früherer Chef Heinz Dürr träumte in den frühen neunziger Jahren von einer Renaissance der Bahnhöfe, und Gesundbrunnen sollte Berlins Tor zum Norden werden.
Einst sah Gesundbrunnen aus wie Prenzlauer Berg – dann kam die Kahlschlagsanierung
Das Gesundbrunnen-Center hat die Gegend architektonisch nicht unbedingt aufgewertet. Und doch ist es ein Magnet, der Publikum und Leben anzieht. Zwischen Damenoberbekleidung und Zoo-Fachhandel geht es so geschäftig zu, wie es früher überall auf dem Straßenzug von Bad- und Brunnenstraße zuging. Bis der Mauerbau im August 1961 Gesundbrunnen aus seiner zentralen Lage an den Rand einer Halbstadt schleuderte. Ohne die Kundschaft aus dem Osten verödete die beliebteste Einkaufsmeile des Berliner Nordens.
Dazu hatte sich der Berliner Senat in eine Sanierungspolitik mit der Abrissbirne verliebt. Gesundbrunnen war mal ein Viertel, dessen Bausubstanz sich kaum unterschied von der nebenan in Prenzlauer Berg. Die Kahlschlagsanierung der sechziger und siebziger Jahre hat auf der westlichen Seite der Nordberliner Arbeiterquartiere ähnlich viel architektonischen Schaden angerichtet wie Bomber-Harris mit seinen Geschwadern. Als 1989 die Mauer fiel, staunten die Berliner aus der DDR über einen Westen, der mit seinen grauen Siebengeschossern sehr viel hässlicher war als ihr vom morbiden Altbaucharme gezeichneter Osten. „Wer Gesundbrunnen in den sechziger und siebziger Jahren verschandelt hat, soll zur Strafe in der Sahara Schnee schippen“, sagt Michael Wolffsohn.
Hertha, Beton, Kriminalität
Der neue Bahnhof sollte neues Leben und neuen Glanz nach Gesundbrunnen bringen – und stand doch erst mal nur als Symbol für das misslungene Zusammenwachsen der Stadt an ihrer nördlichen Nahtstelle. Langsam nur fügen sich die Dinge. Ein Empfangsgebäude gibt es immer noch nicht, aber immerhin ein Dach. Darunter drängen sich die üblichen Verdächtigen: Backshop, Döner, McDonald’s. Wer sich seinen Weg durch die neue Berliner Erlebnisgastronomie bahnt und kurz vor den Treppen zu den Gleisen links abbiegt, der findet sogar ein neu eingerichtetes Reisezentrum. Die Fahrpläne mit Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge sind an einen Bauzaun gepinnt.
Die Bahn hätte aus Gesundbrunnen gerne Nordkreuz gemacht
Vor drei Jahren ist Michael Wolffsohn als Professor an der Universität der Bundeswehr in München emeritiert worden und fährt seitdem noch häufiger mit seiner Frau nach Berlin. Immer mit der Bahn und immer nach Gesundbrunnen, sozusagen bis vor die Haustür, denn natürlich haben die Wolffsohns eine Wohnung in ihrer Siedlung bezogen. Heute ist es gar nicht so leicht, an den Fassaden der 50 sanierten Häuser auch nur ein einziges Graffito zu finden. Dafür gibt es allerlei Angebote für Kinder, unter anderem eine „Lernwerkstatt für zauberhafte Physik“. Zu den gewerblichen Mietern zählen der Verein Berliner Unterwelten, Architekten, Hebammen, Logopäden und jede Menge Ärzte, der Maler Günther Uecker unterhält in der Heidebrinker Straße ein Atelier. Das entspricht nicht gerade der gängigen Gesundbrunner Mischung. In der Gartenstadt Atlantic zeigt sich, was möglich gewesen wäre und was möglich ist in diesem Stadtteil, dessen Name immer noch mehr verspricht, als die Wirklichkeit halten kann.
Diesen Namen hätte die Bahn gern getilgt, als sie 2006 den halb fertigen Bahnhof hinklotzte. Aus Gesundbrunnen sollte ein Nordkreuz werden. Dagegen aber begehrten die Bezirkspolitiker und sonst jede Menge Bürger auf und es blieb bei Gesundbrunnen. „Was denn sonst?“, sagt Michael Wolffsohn. „Der Mensch lebt zum Glück auch von Gefühlen. Nordkreuz ist rein funktional, geografisch. Wir sind keine Roboter, sondern Menschen!“