Die Herbstsonne schien, aber ich war irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden. Auf meinem Schreibtisch sah es aus wie bei Luis Trenker im Rucksack. Ich ging erst mal duschen. Mein neues Duschgel hieß „Grüner Tee & Dattel-Feige“ und roch … nun ja … so unbeschreiblich, dass die Fruchtfliegen sich schon an meiner Wohnungstür versammelten und raus wollten. Ich wollte auch raus! Aber mit dem Geruch? Um nicht aufzufallen, müsste ich mich heute den ganzen Tag vor einem esotherischen Devotionalienhandel aufhalten. Ich brauchte dringend eine Luftdusche.
Im Radio sang Edith Piaf, der „Spatz von Paris“, „Milord“ und erhellte mein Gemüt. War es eine posthume Aufforderung der großartigen Sängerin an mich? („Auf, kommen Sie Milord! Setzen Sie sich an meinen Tisch; draußen ist es so kalt, hier ist es angenehm, legen Sie Ihren Kummer auf mein Herz …“) Und da hatte ich die blitzgeborene Idee, einfach mal wieder französisch essen zu gehen. Ganz in meiner Nähe gab es das Restaurant Le Piaf. Ich wollte meiner Bekannten aus dem Grunewald schon länger eine Freude machen und sie zu einem halben Dutzend Schnecken einladen. „Du magst doch französische Küche?“ Meine Bekannte aus dem Grunewald mit französischen Wurzeln entgegnete mir am Telefon skeptisch mit einem klaren und eindeutigen „Mal sehen wie es schmeckt.“ Wir verabredeten uns am späten Nachmittag vor dem Restaurant in der Schloßstraße.
Vor dem Essen: Spaziergang durch Alt-Charlottenburg
Doch vorher wollte ich noch etwas flanieren gehen, um den unangenehmen Grüner-Tee-Dattel-Feige-Geruch loszuwerden. Nachdem ich den Chemie-Mix in der Mülltonne entsorgt hatte, schnappte ich mir meinen Flanierstock aus dem 19. Jahrhundert und schlenderte die Seelingstraße entlang, die weit älter als mein Flanierstock ist. Es war ein milder Herbsttag mit stahlblauem Himmel und die Bäume gaben mit ihren bunten Blättern noch mal so richtig Gas um dann in einen tiefen und langen Winterschlaf zu verfallen. Eine junge Linde stand an einer Straßenecke einsam im Wind und verlor nach und nach ihr wärmendes Blätterkleid. Ich hätte ihr am liebsten ein Strickjäckchen über die Schultern gelegt.
Während ich noch über das Gefühlsleben von Bäumen sinnierte, kam ich an dem neueröffneten Café namens Röstwerk vorbei, in dem ich vor ein paar Wochen ein Stück Schwarzwälderkirschtorte liegend (!) serviert bekommen hatte. Und das ausgerechnet mir, dem Tortengraf! Das geht natürlich überhaupt nicht! Ich erklärte den Betreibern, dass doch das Auge mitisst und der Konditor sich mit der Dekoration doch solche Mühe gegeben hat. Mir wurde daraufhin hoch und heilig Besserung gelobt. Ich werde es demnächst nachkontrollieren, denn die Torte war exzellent. Nur einen Tortenwurf entfernt befindet sich der legendäre Brotgarten, aus dem stets eine Brise aus ofenwarmen duftendem Brot gemischt mit frisch aufgebrühtem Kaffee weht. Hier trank ich noch rasch einen Espresso. Als ein leberwurstfarbener Hund an mir neugierig herumschnupperte, fiel mir wieder das Grüner-Tee-&-Dattel-Feige-Gemisch ein. Ob der Hund das mochte? Vielleicht hebt er gleich sein Bein? Nervös kippte ich den Espresso hinunter und suchte das Weite.
Ich liebe den Zillekiez! Da gibt es noch alteingesessene Geschäfte, in denen schon der alte Heinrich Zille ein und ausgegangen ist. Hier liegt noch ein leichter Hauch vom alten Westberlin in der Luft. Ich gehe nicht gerne in Berlin-Mitte-Clubs, wo man in aufgewärmten Siebziger-Jahre-Charme-Ambiente lauter Bärte an Becks-Flaschen sieht und junge Frauen mit ihren Tatoos aussehen, als hätten sie sich den ganzen Tag in einem antiautoritären Kinderladen gegenseitig mit Fingerfarben bemalt.
Eine Französin voller Geheimnisse
Als ich die Schloßstraße erreichte, erkannte ich schon von weitem, dass meine Bekannte aus dem Grunewald gerade ihren dicken Jaguar elegant in eine freigewordene Parklücke chauffierte. Ich eilte zu ihr. Sie begrüßte mich mit der kurzen Bemerkung: „Du riechst heute so komisch“, die ich geflissentlich überhörte. Denn ich wollte mich nicht durch diese Bemerkung herunterziehen lassen, wie eine schlecht sitzende Hose und wechselte schnell das Thema.
Im Le Piaf nahmen wir an einem kleinen Tisch im typisch französischem Ambiente Platz. „Heute lade ich dich zu einem halben Dutzend Schnecken ein.“ Ich schaute sie triumphierend an. „Na? Was sagst du dazu?“ Ich erntete einen entsetzten Blick. „Aber ich esse doch keine Schnecken!!!“ Ich war irritiert. Eine Französin die keine Schnecken isst? Die mögen doch alle Franzosen. Ach, egal, eine schöne Frau ohne Geheimnisse, ist wie eine Rose ohne Duft.
In dem Zusammenhang fällt mir ein typischer Kurt-Krömer-Witz ein und der geht so: Ein Mann steht auf seinem Balkon im fünften Stock und gießt die Blumen, da entdeckt er eine Schnecke und schnipst sie nach unten. Zwei Jahre später klingelt es an der Wohnungstür. Der Mann öffnet. Die Schnecke: „Wat warn det eben?“
Die Küche
Ich erfuhr vom unpersönlichen und etwas arroganten Oberkellner, dass Schnecken sowieso nicht im Angebot seien, da vor einiger Zeit die Speisekarte verkleinert wurde. Meine Bekannte wählte ein Quinoa-Küchlein mit Waldpilzen (13,90 Euro) und mir war nach dem Duschgel-Desaster nach Wild und wählte Rehkeule mit Brombeerrotweinsauce an Maronen (25,00 Euro). Während meine Begleitung mit ihrem Küchlein sehr zufrieden war, fand ich das Fleisch für meinen Geschmack etwas zu blutig. Dafür entschädigte aber die Brombeerrotweinsauce mit einem sensationell überirdisch guten Aroma. Die Weinberatung war gut, denn der empfohlene Rosé (Hommage de la Grave Rosé) passte mit seiner feinen Säure perfekt zu beiden Gerichten.
An einem Tisch in der Ecke saß ein älterer Herr und speiste zu unserem Vergnügen mit umgebundener Stoffserviette wie in einem Loriot-Sketch. Neben uns am Nachbartisch wurde inzwischen ein Ehepaar platziert, das uns neugierig von oben bis unten beäugte, als trügen wir die traditionelle Tracht der Eingeborenen von Papua-Neuguinea. Der Abstand der beiden kleinen Tische war nur zehn Zentimeter. Für unseren Geschmack viel zu dicht. So dich, dass man sogar die Herzen des Ehepaars schlagen hörte und das Tischgespräch sehr einschränkt und oberflächlich macht. Als wir nach einer Zigarettenpause draußen vor dem Restaurant wieder hereinkamen, hatte ich das Gefühl, dass der Mann des Ehepaars vom Nebentisch gerade einen Blick in mein zurückgelassenes kleines schwarzes Notizbuch geworfen hatte und es rasch wieder zurück gelegt hatte. Vielleicht ein ehemaliger Stasi-Spion, der nach der Wende in den Westen rübergemacht hatte?
Der Abschluss-Schreck
Ich erwartete schon sehnsüchtig das Dessert. Manchmal können Sekunden wie Nadelstiche sein. Nach einer Weile kam es doch – und die Enttäuschung war groß: nur zwei Sorten hausgemachtes Fruchtsorbet, zwei (!) Blaubeeren, achtlos in ein Glas geworfen und das Ganze mit einem hochprozentigen Himbeergeist ertränkt (7,50 Euro). Liebloser hätte man ein Dessert nicht herrichten können. Ich war froh, dass der Hilfskellner mit dem Glas nicht zu nahe an eine Kerze kam, denn dann wäre der ganze Laden in die Luftgeflogen. Nachdem wir bezahlt hatten und draußen vor dem Lokal standen, fiel uns auf, dass wir noch nicht mal verabschiedet wurden. Weder der unpersönliche Oberkellner noch der unterwürfige Hilfskellner hatten es für nötig gefunden, uns noch einen schönen Tag zu wünschen. Schließlich hatten wir 85 Euro inklusive Trinkgeld dort gelassen.
Nachdenklich schlenderten wir über die laubbedeckte Schloßstraße. Das ursprüngliche Stahlblau des Himmels war mittlerweile einem tiefen Kirschwälderschwarz gewichen und ich begleitete noch meine Bekannte zu ihrem dicken Jaguar, der über und über mit Herbstblättern bedeckt war. Nach kurzer Verabschiedung brauste sie davon, so dass die bunten Blätter vom Autodach nervös umherwirbelten. Ich kam zu der Erkenntnis, dass das heute nicht mein Tag war. Und der Feige-Dattel-Geruch war auch noch nicht verflogen. Wahrscheinlich wollte meine Bekannte deshalb wieder schnell zurück in ihren Grunewald? Oder lag es am missglückten Restaurantbesuch?