„Paris Moskau!“, schallte es mit glockenheller Stimme aus dem Telefonhörer. Es war meine Bekannte aus dem Grunewald. Ich erschrak, denn sie reist, im Gegensatz zu mir, für ihr Leben gern und ist berühmt für ihre spontanen Ideen, die sie meist flugs in die Tat umsetzt. Ich wollte aber nicht nach Paris oder Moskau. Ich bin so reisefaul, ich fahre mir allerhöchstens mal durch die immer spärlicher werdenden Haare. Doch im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, dass keine Reise, sondern ein Restaurant gleichen Namens gemeint war. Ein schöner Zufall, denn ich zermarterte mir schon seit Tagen mein Hirn, über welches Restaurant ich dem geneigten Leser dieser Kolumne berichten könnte.
Ich war begeistert von ihrer Idee, denn ich kannte das kleine geschichtsträchtige fachwerkartige Pfefferkuchenhaus mitten im Regierungsviertel schon seit den 80er Jahren. Damals gab es dort nur drei Gebäude: den Reichstag, die Schweizer Botschaft und das Restaurant Paris-Moskau. Der Rest war Brachfläche, auf der böse Menschen ihre alten Eisschränke und Tapetenreste entsorgten. Der originelle Name „Paris-Moskau“ kommt daher, weil sich das Restaurant genau auf der geografischen Achse von Paris – Berlin – Moskau befindet. Der Hauptbahnhof ist nur einen Tortenwurf entfernt.
Onkel Dagoberts Nachbar
So schnappte ich mir den schon seit Tagen stumm in der Ecke stehenden Flanierstock und verließ frohen Mutes meinen Elfenbeinturm, um den dicken Jaguar meiner Bekannten zu besteigen. Die Fahrt dauerte nur 15 Minuten und wir parkten direkt vor dem kleinen Pfefferkuchenhaus. Doch, oh Schreck! Die Brachfläche war verschwunden und stattdessen reckte sich ein grauenvolles graues Bürogebäude gen Himmel und ließ dass kleine Fachwerkhaus klein und zerbrechlich erscheinen. Es war das neue Innenministerium, streng bewacht wie der Geldspeicher von Onkel Dagobert.
Ich finde es sehr schade, dass die heutigen Architekten so ideenlos sind und langweilige Gebäude entwerfen. Warum wurde das Ministerium des Innern nicht auch als Fachwerkhaus gebaut? Schließlich stand das Restaurant Paris-Moskau schon länger dort. Das Ministerium als Fachwerkhaus? Warum nicht? Mehr Mut, meine Damen und Herren Architekten. Bei Ideenmangel einfach mich anrufen. Ich helfe Ihnen gern.
Wir nahmen auf der einladenden Terrasse Platz, um die letzte Sommersonne zu genießen, argwöhnisch beobachtet von dem unterforderten aber zahlreich vertretenen Sicherheitspersonal. Wir schauten uns vorsichtig um. Man munkelte ja, dass die Bundeskanzlerin hier ab und an auf eine warme Tellermahlzeit vorbeikommen soll. Weit hat sie es ja nicht. Ob sie die hundert Meter von ihrem Amtssitz zu Fuß hierher läuft? Man weiß es nicht. Automatisch fingen wir an, uns leise und gedämpft zu unterhalten, denn wir hatten das unangenehme Gefühl, abgehört zu werden.
Auf ein „Regierungsviertele“
Hausherr Thomas de Maziere, Bundesminister des Innern, trägt an unserem Verhalten die Schuld. Schließlich hat er seine Untätigkeit zur Abhöraffäre so rechtfertigen wollen: „Auch Unterlassen ist eine Entscheidung.“ Genau! Auch das Angucken von Essen ist essen. Apropos essen. Nun wollten wir mal sehen, ob wir im Pfefferkuchenhaus etwas für Gaumen und Geist ergattern können und schauten in die uns gereichten Mittagskarten. Wir bestellten erst einmal ein „Regierungsviertele“ (0,25 l Wein für 6,80 Euro), der uns außerordentlich gut schmeckte – ein trockener Riesling aus dem Rheingau von Schloss Schönborn. Das fing ja schon mal gut an.
Wir wählten als Vorspeise Gebeizten Lachs mit Zitronenschmand und Wiesenkräutern (8,90 Euro) und als Hauptgang gab es für meine Bekannte aus dem Grunewald den Seesaibling gebraten, Tagliatelle und Karottengemüse, während ich mich für das Entrecôte mit Kräuterbutter, Ofenkartoffeln und Grünen Bohnen entschied. Da ich kein großer Fleischesser bin, mir aber mir trotzdem ab und zu mal mir ein gutes Stück Fleisch gönne, bin ich kein Vegetarier sondern eher ein Flexitarier.
Als unsere Speisen auf dem Tisch standen, fand sich pünktlich eine Brigade Wespen ein, die wahrscheinlich über ein perfektes Soziales Netz verfügt. Was ist der Unterschied zwischen Wespen und schlechten Architekten? Wespen nerven nur im Sommer. Dieses Jahr ist es jedoch besonders schlimm mit den Tierchen. Ich selbst bin 2015 bisher zweimal (!) gestochen worden. Und zwar an Körperstellen, dessen genaue Beschreibung mir meine gute Erziehung verbietet.
Von Tüten und Centmünzen
Der Wirt von meiner Stammkneipe Yorckschlösschen, Olaf Dähmlow, hat mir neulich einen guten Trick verraten, wie man die lästigen Biester wieder los wird: Er hat alle paar Meter braune zusammengeknüllte Packpapiertüten in seinem Biergarten aufgehängt. Dieser Trick ist wirklich genial! Die Tüten sehen wie Wespennester aus. Mit zwei bis drei Papiertüten kann man ganz einfach Wespen austricksen, denn Wespen sind nicht gern in der Nähe eines fremden Nestes und treten lieber freiwillig den Rückzug an. Doch woher sollten wir jetzt eine braune Packpapiertüte herbeizaubern? Wortlos holte meine Bekannte aus dem Grunewald plötzlich einige Centmünzen aus Kupfer aus ihrem Portemonnaie und verteilte sie auf dem Tisch. Sie behauptete, das wäre der beste Trick gegen diese schwarz-gelben Biester. Mir war es etwas peinlich, denn die Servierdame würde sicher denken, dass das nun ihr Trinkgeld sei.
Dann kamen unsere bestellten Speisen. Sie waren köstlich! Meine Bekannte lobte den hervorragend zubereiteten frischen Seesaibling und kam sich vor, „wie in einem romantischen Hafenrestaurant im Süden“. Auch das Entrecôte war zart und wurde mit der Kräuterbutter und den Böhnchen zu einer vollendeten Symphonie. Und das „Regierungsviertele“ korrespondierte fantastisch dazu. Restaurantchef Wolfram Ritschl hatte uns sehr gut beraten. Außerdem steckt dieser sympathische Vollblutgastronom voller skurriler Geschichten, für die hier leider der Platz nicht reicht.
Merkel kommt?!
Plötzlich lag eine ungewohnte Ruhe über dem Regierungsviertel. Der dicke Jaguar döste silbern glänzend in der Sonne. Es war eine Ruhe wie kurz vor einem Tsunami, bevor er mit voller Wucht auf den Strand donnert. War etwa die Bundeskanzlerin im Anmarsch, um hier das köstliche Entrecôte zu verdrücken? Wir hielten den Atem an. Da! Jemand betritt die Terrasse! … Sie kommt! … Wir nehmen Haltung an.
Ach nein, Fehlalarm, es war leider nur eine rüstige 96-jährige Dame aus Ostwestfalen im Merkel-Outfit, die sich das Restaurant Paris-Moskau anschauen wollte, weil sie hier schon mal als junges Mädchen war. Sie setzte sich in ihrem hokkaidokürbisfarbenen Blazer an den Nebentisch.
Da brachte die ausgesprochen nette und aufmerksame Servierdame das sehnlichst erwartete Dessert! Ein Mirabellensorbet an einer Schmandtarte mit Feigenmus. Sehr aromatisch, intensivster Mirabellengeschmack, überirdisch erfrischend – fulminant! Das beste Sorbet, das ich je gegessen habe! Man merkte sofort, dass der Küchenchef Martin Konrad schon im berühmten Hotel Louis C Jacob mit 2 Michelin-Sternen gearbeitet hat. Eine handwerklich perfekte Geschmacksexplosion! So reise ich gern – in einem charmanten Pfefferkuchenhaus. Und zwar ausschließlich kulinarisch, nach Paris-Moskau. Und meine Bekannte aus dem Grunewald ausnahmsweise auch. Und die Wespen? Die sind alle in Richtung Innenministerium geflogen …