Nachbarschaft mit Geschichte in Berlin

Der Kiez-Klassiker über das Bayerische Viertel

Der nördliche Teil des Bayerischen Platzes - hier brüllt in einer Grünanlage der bayerische Löwe.
Der nördliche Teil des Bayerischen Platzes - hier brüllt in einer Grünanlage der bayerische Löwe.
Gudrun Blankenburg hat das Buch über das Bayerische Viertel geschrieben. Einen Kiez mit Geschichte. Und einen Kiez, der viele Geschichten zu erzählen hat.

In der Haberlandstraße im Bayerischen Viertel denkt sie manchmal: „Jetzt kommt mir Albert Einstein gleich entgegenspaziert. Ganz schlicht, ganz unauffällig. Im langen, grauen Mantel und mit seinem typischen schwarzen Hut.“ Gudrun Blankenburg steht vor der Hausnummer 8. Ein gelb verputztes Mietshaus aus der Nachkriegszeit. Mit dem Physikergenie hat es wenig zu tun. Doch bevor die Bomben fielen, stand hier ein reich geschmücktes Gebäude aus der Gründerzeit. Bis 1932 bewohnte Familie Einstein darin eine herrschaftliche Wohnung mitsamt Turmzimmer. „In das zog sich der Wissenschaftler zum Denken und Schreiben zurück“, erzählt die Autorin und Stadtführerin, die sich auf Schöneberg spezialisiert hat. Bei ihren Führungen durchs Bayerische Viertel macht sie vieles, was sich dort ereignete, in der Rückschau wieder lebendig.

Die Mittsiebzigerin erzählt von Kristalllüstern, Spitzendecken, Zimmerpalmen und den altdeutschen Wandbildern im Salon der Einsteins. Blankenburg zeigt ein Foto herum, es stammt aus dem Jahr 1930. Der indische Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore weilt zum Kaffeebesuch bei Elsa und Albert Einstein. „Es ging alles sehr bürgerlich zu“, erzählt Blankenburg. Eine untergegangene Welt. Bei ihren Spaziergängen nimmt sie jeden, der sie begleitet, zu einer Zeitreise dorthin mit. Und neuerdings gelingt ihr das auch mit einem Buch. Es heißt „Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg – Leben in einem Geschichtsbuch“ und ist inzwischen schon in zweiter Auflage erschienen.

Was ist zerstört worden? Wer hat da gewohnt?

Die alltägliche Nähe der Vergangenheit in ihrer Lieblingsgegend fasziniert Gudrun Blankenburg. Deshalb zog die geborene Neuköllnerin 2001 ins Bayerische Viertel und machte dort ihre Neugier auf lokale Geschichte zum zweiten Beruf. Früher arbeitete sie als Bibliothekarin, heute engagiert sie sich in der Bezirksverordnetenversammlung für Kultur und Bildung, doch ihre Leidenschaft sind „interessante Orte und Häuser, spannende Familiengeschichten und Biographien“, die man im Viertel entdecken kann. Anfangs führte sie Freunde herum, dann auch andere Interessierte. „Viele Menschen sind total neugierig, etwas über ihren Kiez zu erfahren.“ Was ist zerstört worden? Wer hat da gewohnt? Dürfen wir mal in die Hinterhöfe?

Sogar die einstige Wohnung der Chanson-Größe der Zwanziger, Claire Waldoff, an der Regensburger Straße 33 durfte Blankenburg mit einer Gruppe besichtigen. „Als wir vor dem Haus standen, schaute der heutige Bewohner aus dem Fenster, spielte eine Waldoff-Platte. Dann lud er uns überraschend zu Besuch ein.“

Das Wohngebiet rund um den Bayerischen Platz, zwischen Hohenstaufenstraße und Volkspark Schöneberg, mit Schmuckstücken wie dem Viktoria-Luise-Platz, war Schauplatz für das Who is Who der späten Kaiserzeit und 1920er Jahre. Hier lebten auch Gottfried Benn, Gisèle Freund, Billy Wilder, Erich Fromm, Alfred Kerr und viele andere.

Begehrte Altbauwohnungen

Der jüdische Kaufmann Salomon Haberland und sein Sohn Georg hatten im späten 19. Jahrhundert die Idee zum Bau eines Quartiers für Bildungsbürger. Mit prunkvollen Eingängen, Portierslogen, Stuckfassaden, Türmchen und Giebeln im bayerischen Renaissance-Stil, geräumigen Wohnungen, Schmuckplätzen, aber ohne Industrie. Dafür mit einer U-Bahnlinie, der heutigen U 4. Viele Straßennamen erinnern an bayerische Städte – und die Haberlandstraße an beide Baulöwen, deren Konzept aufging. Die Altbau-Wohnungen sind bis heute begehrt.

Blankenburg schwärmt von der „Individualität der Häuser.“ Die Schönheit einer Straße sei damals ein wichtiges Anliegen gewesen. Man habe für die Ewigkeit gebaut. Dann blättert sie im KaDeWe-Katalog von 1913. „Das war das wilhelminische Berlin: Die Gewissheit, dass alles so bleibt in den nächsten Jahrhunderten. Wenn Sie einen Stuhl gekauft haben, hielt er ein Leben lang.“ In zwei Kriegen zerbrach diese Illusion.

Ihr Buch, das im Hendrik Bäßler Verlag erschienen ist, hat sie Helmut Kallmann gewidmet. 1922 wurde er in der Bamberger Straße 6 geboren. 1939 schafften es seine Eltern, ihn nach England zu schicken. Eltern und seine Schwester starben im KZ. Mehr als 6000 Menschen aus ihrem Viertel, das damals die „Jüdische Schweiz“ genannt wurde, ereilte dieses Schicksal. Kallmann zeichnete 1940 aus dem Gedächtnis den Plan seiner Kindheitsstraßen. Die Skizze steht im Buch, und Blankenburg liest aus einem Dankesbrief vor, den ihr Kallmann aus seinem heutigen Wohnort Toronto geschickt hat. Der alte Mann spricht weiter von seiner „Heimat“ – dem Bayerischen Viertel.

Wohnen Sie im Bayerischen Viertel oder interessieren Sie sich für diesen besonderen Berliner Kiez? Unseren neuen Kiezblog zum Bayerischen Viertel finden Sie hier.


Quelle: Der Tagesspiegel

Der Kiez-Klassiker über das Bayerische Viertel, Haberlandstraße, 10779 Berlin

Weitere Artikel zum Thema

Wohnen + Leben
Das Bayerische Viertel in Schöneberg
Bayerischer Platz - Zwischen Berchtesgadener-, Münchener- und Aschaffenburger Straße liegt eine der begehrtesten Wohngegenden Schönebergs. […]
Essen + Trinken
Dichtung und Trunkenheit
Als Gottfried Benn hier schrieb, die Juno rauchte und sein Abendbier trank, hieß die Kneipe […]
Wohnen + Leben
Schöner bauen am Stadtrand
Dass Siedlungen an der Peripherie nicht spießig und monoton sein müssen, zeigt gerade die Berliner […]