In der Haberlandstraße im Bayerischen Viertel denkt sie manchmal: „Jetzt kommt mir Albert Einstein gleich entgegenspaziert. Ganz schlicht, ganz unauffällig. Im langen, grauen Mantel und mit seinem typischen schwarzen Hut.“ Gudrun Blankenburg steht vor der Hausnummer 8. Ein gelb verputztes Mietshaus aus der Nachkriegszeit. Mit dem Physikergenie hat es wenig zu tun. Doch bevor die Bomben fielen, stand hier ein reich geschmücktes Gebäude aus der Gründerzeit. Bis 1932 bewohnte Familie Einstein darin eine herrschaftliche Wohnung mitsamt Turmzimmer. „In das zog sich der Wissenschaftler zum Denken und Schreiben zurück“, erzählt die Autorin und Stadtführerin, die sich auf Schöneberg spezialisiert hat. Bei ihren Führungen durchs Bayerische Viertel macht sie vieles, was sich dort ereignete, in der Rückschau wieder lebendig.
Was ist zerstört worden? Wer hat da gewohnt?
Die alltägliche Nähe der Vergangenheit in ihrer Lieblingsgegend fasziniert Gudrun Blankenburg. Deshalb zog die geborene Neuköllnerin 2001 ins Bayerische Viertel und machte dort ihre Neugier auf lokale Geschichte zum zweiten Beruf. Früher arbeitete sie als Bibliothekarin, heute engagiert sie sich in der Bezirksverordnetenversammlung für Kultur und Bildung, doch ihre Leidenschaft sind „interessante Orte und Häuser, spannende Familiengeschichten und Biographien“, die man im Viertel entdecken kann. Anfangs führte sie Freunde herum, dann auch andere Interessierte. „Viele Menschen sind total neugierig, etwas über ihren Kiez zu erfahren.“ Was ist zerstört worden? Wer hat da gewohnt? Dürfen wir mal in die Hinterhöfe?
Sogar die einstige Wohnung der Chanson-Größe der Zwanziger, Claire Waldoff, an der Regensburger Straße 33 durfte Blankenburg mit einer Gruppe besichtigen. „Als wir vor dem Haus standen, schaute der heutige Bewohner aus dem Fenster, spielte eine Waldoff-Platte. Dann lud er uns überraschend zu Besuch ein.“
Das Wohngebiet rund um den Bayerischen Platz, zwischen Hohenstaufenstraße und Volkspark Schöneberg, mit Schmuckstücken wie dem Viktoria-Luise-Platz, war Schauplatz für das Who is Who der späten Kaiserzeit und 1920er Jahre. Hier lebten auch Gottfried Benn, Gisèle Freund, Billy Wilder, Erich Fromm, Alfred Kerr und viele andere.
Begehrte Altbauwohnungen
Der jüdische Kaufmann Salomon Haberland und sein Sohn Georg hatten im späten 19. Jahrhundert die Idee zum Bau eines Quartiers für Bildungsbürger. Mit prunkvollen Eingängen, Portierslogen, Stuckfassaden, Türmchen und Giebeln im bayerischen Renaissance-Stil, geräumigen Wohnungen, Schmuckplätzen, aber ohne Industrie. Dafür mit einer U-Bahnlinie, der heutigen U 4. Viele Straßennamen erinnern an bayerische Städte – und die Haberlandstraße an beide Baulöwen, deren Konzept aufging. Die Altbau-Wohnungen sind bis heute begehrt.
Ihr Buch, das im Hendrik Bäßler Verlag erschienen ist, hat sie Helmut Kallmann gewidmet. 1922 wurde er in der Bamberger Straße 6 geboren. 1939 schafften es seine Eltern, ihn nach England zu schicken. Eltern und seine Schwester starben im KZ. Mehr als 6000 Menschen aus ihrem Viertel, das damals die „Jüdische Schweiz“ genannt wurde, ereilte dieses Schicksal. Kallmann zeichnete 1940 aus dem Gedächtnis den Plan seiner Kindheitsstraßen. Die Skizze steht im Buch, und Blankenburg liest aus einem Dankesbrief vor, den ihr Kallmann aus seinem heutigen Wohnort Toronto geschickt hat. Der alte Mann spricht weiter von seiner „Heimat“ – dem Bayerischen Viertel.
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