Zunächst sieht sie reichlich unspektakulär aus. An der Stelle, an der die Boxhagener von der Warschauer Straße abzweigt, fällt sie gegenüber dieser und der nahen Frankfurter Allee kaum auf. Kaum jemand würde vermuten, dass sie sich durch den ganzen Ortsteil schlängelt wie der Broadway durch Manhattan. Und während die berühmte New Yorker Straße in ihrer ganzen Endlosigkeit auf einen indianischen Trampelpfad zurückgeht, war der Vorgänger der Boxhagener ein Landweg, der zum Vorwerk Boxhagen führte – einem alten Gutshof vor den Toren der Stadt. Dieser lag etwa dort, wo heute die Wühlisch- in die Boxhagener Straße einmündet und wurde bereits im 14. Jahrhundert urkundlich erwähnt.
1889 wurde in der Gegend die Gemeinde Boxhagen-Rummelsburg gegründet. Zu dieser Zeit waren auf beiden Seiten des „Alten Cöpenicker Wegs“, wie die Boxhagener Straße früher hieß, bereits neue Wohnquartiere entstanden. Heute ist die Gemeinde vollständig im gründerzeitlichen Friedrichshain aufgegangen und existiert nicht mal mehr als Ortslage. Selbstständig war sie ohnehin nur 20 Jahre lang. Ihre Existenz manifestiert sich noch darin, dass einige Straßen an der ehemaligen Gemeindegrenze die Namen ändern. Und natürlich in der Boxhagener Straße.
Es gibt vieles im Bezirk, was sich ständig ändert. Die Arbeiter der Reichsbahn und der Glühbirnenfabrik Narva prägten einst die Gegend, später waren es Hausbesetzer und Studenten. Inzwischen ziehen zunehmend wohlhabendere Leute aus der Kreativbranche in die Gegend und gründen Familien. André Krischock betreibt eine Institution, die bleibt und schon lange da ist. Das Kino „Intimes“ an der Ecke zur Niederbarnimstraße zeigt seit über 100 Jahren Filme. Die Innenausstattung stammt noch aus DDR-Zeiten, nur das Logo an der Hauswand hat Krischock frisch gestrichen.
Die Partymeile und ein Ort der Stille
Der Kino-Veteran hat die letzten Jahrzehnte im Südkiez, wie die Gegend südlich der Frankfurter Allee auch genannt wird, miterlebt. „Ich habe das Gefühl, dass sich die Leute in Wellen austauschen“, sagt Krischock, der früher selbst Hausbesetzer war. „Die Wohnungen werden teuer ausgebaut, es kommen immer mehr Gutsituierte, manche Läden wechseln ständig den Besitzer.“ Vieles ähnelt der Entwicklung in Prenzlauer Berg vor ein paar Jahren. Gegenüber vom „Intimes“ manifestiert sich die Veränderung am deutlichsten. Die Kneipenmeile Simon-Dach-Straße erinnert schon fast an bekannte Urlaubsorte. Wenn es dunkel wird ist hier kaum jemand über dreißig und die zahlreichen Touristen fallen sofort auf. Englische und skandinavische Reiseveranstalter bieten bereits Sauftouren durch das Viertel an.
Wer jedoch der Boxhagener Straße nur ein paar Meter nach Osten folgt, entkommt der Hektik. Der Kirchhof der evangelischen Georgen-Parochialgemeinde ist ein Ort der Ruhe – und ermöglicht einen Blick in die Vergangenheit: die Grabsteine berichten von den früheren Bewohnern des Viertels. Die kleine Friedhofskapelle ist das älteste Gebäude in Friedrichshain, das unter Denkmalschutz steht – dabei wurde sie erst 1879 errichtet. Der Architekt Gustav Knoblauch ließ sich von romanischen Formen inspirieren und schuf so zwar nichts Eigenständiges, doch immerhin einen Bau von großer Schönheit. Darin residiert seit einigen Jahren der Verein „Theaterkapelle“, der in den Räumen experimentelles Theater und Musik präsentiert. Die Stücke kommen etwa von Elfriede Jelinek und Georg Büchner, musikalisch wird viel Avantgarde-Jazz geboten. Punk findet eher woanders statt: Die Supamolly in der Jessnerstraße ist eines der letzten Überbleibsel aus Hausbesetzertagen.
Keine Hausbesetzer, keine Arbeiter
Im November 1990 tobte in der nahen Mainzer Straße die große Hausbesetzerschlacht. Im Anschluss verwandelte sich die Straße als eine der ersten im Kiez in eine bürgerliche Wohngegend und markiert heute eine spürbare Grenze. Die Boxhagener Straße verläuft von hier bis zum Ostkreuz durch einen weniger hippen Teil des Bezirks. Doch auch hier nimmt die Zahl der Eigentumswohnungen zu und alte Bewohner werden verdrängt. Jens Hadel steht täglich in seiner Fleischerei, einem Familienbetrieb in der Boxhagener Straße 42. In dem Haus wird seit seinem Bau im Jahr 1900 Fleisch verkauft. „Früher liefen hier jeden Tag bis zu 8.000 Arbeiter zur S-Bahn“, erzählt Hadel. Die Kaufkraft war nach der Wende nicht mehr da, doch Hadel machte weiter, hat inzwischen neue Kunden gewonnen und sich auf sie eingestellt. „Viele wollen nicht mehr schmoren und kochen, sondern nur noch braten“, sagt er. Das geht schneller.
Ein Stück weiter östlich endet die Boxhagener Straße. Die zweistöckigen Häuser mit den Nummern 70–72 sind die einzigen, die noch daran erinnern, wie das ländliche Boxhagen ausgesehen hat. In der Neuen Bahnhofstraße fällt der Blick auf die monumentale Fassade der Knorr Bremse AG. Heute sind in dem früheren Stammhaus noch das Museum und einige repräsentative Räumlichkeiten untergebracht, der Hauptsitz ist inzwischen München. Einige Schritte weiter unterquert die Boxhagener Straße die Bahngleise und wird zur Marktstraße. Möglich, dass bald noch mehr Menschen aus dem neuen Friedrichshain ihrem Verlauf nach Osten folgen. Lichtenberg soll gar nicht so schlimm sein.