Wenn eine Straße als Achse zu bezeichnen ist, dann der sogar für Berliner Verhältnisse ausgesprochen breite Boulevard mit dem begrünten Mittelstreifen, der drei Kilometer durch den Stadtteil Wedding führt. Unter ihrem heutigen Namen existiert die Seestraße erst seit 1827, obwohl sie bereits vor etwa 300 Jahren angelegt wurde. Wer sie heute befährt oder entlangläuft, wird jedoch nicht als erstes an einen See denken. Das Rauschen, das man hört, stammt vom unaufhörlich fließenden Verkehr und nicht vom Wind, der über den namensgebenden Plötzensee weht. Die Seestraße gehört heute zum Straßenring rund um die Berliner Innenstadt und wird an ihrem westlichen Ende sogar zur Stadtautobahn, sobald sie den Plötzensee passiert hat. Bei einer Fahrt auf der völlig knickfreien Seestraße ist höchstens noch ein kurzer Blick auf den tief eingeschnittenen See möglich, bevor der Berlin-Spandauer-Schiffahrtskanal überquert wird.
Von beiden Enden der Seestraße erblickte man im frühen 18. Jahrhundert wohl ein Schloss. Im Westen das von Charlottenburg, im Osten Schloss Schönhausen. Der erste preußische König, Friedrich I., ließ den Weg anlegen, um eine direkte Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Damals verlief der Weg noch weit jenseits der Stadtmauern Berlins durch die sandige und bewaldete Jungfernheide. Bereits zu dieser Zeit gab es allerdings die Kreuzung mit der Müllerstraße, die eine der ersten Chausseen Preußens war. Ansonsten blieb die karge Heidelandschaft bis 1900 weitgehend unbebaut – ihr loser Sand wäre den Anwohnern vermutlich auch in alle Ritzen geflogen.
Boulevard mit neuem Gesicht
Das von Ida Hoppe am Eckernförder Platz gegründete Ausflugslokal wurde zur Legende – etwas Vergleichbares wäre an diesem nach wie vor unbebauten grünen Fleckchen noch heute denkbar. Das östliche Ende hat sich dagegen deutlich verändert: früher führte die alte Seestraße durch die heutige Reginhardstraße in Schönholz bis zum Park Schönhausen, heute knickt sie am Kombibad ab, um unter anderem Namen gen Osten zu verlaufen.
Die Stadt kam der Seestraße immer näher – 1861 erfolgte die Eingemeindung des Weddings nach Berlin. Ab dem späten 19. Jahrhundert unterlag die Seestraße vielerlei Veränderungen – sie wurde zu einem Teil des Straßenrings, zu dem sie auch heute noch gehört. 1890 begann der Bau von Forschungsinstituten, zehn Jahre später entstand die Krankenhausstadt des Virchow-Klinikums. Derzeit wird die dortige Forschungstradition mit der Errichtung eines Laborgebäudes für das Robert-Koch-Institut fortgesetzt. Die Seestraße endet seit 1901 am heutigen Louise-Schroeder-Platz, macht dort einen Knick und führt als Osloer und Bornholmer Straße weiter in Richtung Prenzlauer Berg. 1957 wurde das im Norden abgetrennte Stück der Verkehrsachse zur Reginhardstraße.
Genügend Platz für die Express-Tram
Durch ihre Breite war die Seestraße auch wie geschaffen für die (vorsichtige) Rückkehr der Straßenbahn nach West-Berlin. Dort gab es das vermeintlich altmodische Verkehrsmittel seit 1967 nicht mehr. In zwei Bauabschnitten wurde bis 1997 auf dem Mittelstreifen eine zweigleisige schnelle Bahnstrecke angelegt, die mit einer Wendeschleife am Eckernförder Platz an der Grenze zu Charlottenburg endet. Seither rasen hier die Trams in Richtung Osten am Dauerstau vorbei – und mehrere unachtsame Fußgänger hat das hohe Tempo der Bahn bereits das Leben gekostet.
Genau in der Mitte der 3,2 Kilometer langen Seestraße befindet sich der gleichnamige U-Bahnhof. Seit 1923 verläuft die U-Bahnstrecke unterirdisch entlang der Müllerstraße. An der Seestraße endete bis 1956 die Nord-Süd-Strecke, weiter in Richtung Norden ging es mit Straßenbahnen. Inzwischen kommt man mit der U-Bahn bis nach Tegel, doch auch wer an der Seestraße aussteigt, findet sich an einer äußerst lebendigen Ecke wieder: Restaurants, Geschäfte und ein Multiplex-Kino sorgen an der bekanntesten Kreuzung des Weddings dafür, dass die Seestraße hier nie ruht.
Dieser Text entstand in Kooperation mit dem Blog Weddingweiser: www.weddingweiser.de