Reisen für Kinder aus armen Familien

Neues sehen trotz knapper Kasse

Mal etwas anderes sehen: Kinder bei einer Führung durchs Wattenmeer an der Nordsee.
Mal etwas anderes sehen: Kinder bei einer Führung durchs Wattenmeer an der Nordsee.
Gering verdienende Familien können es sich kaum noch leisten, in Urlaub zu fahren. Stiftungen und Spender ermöglichen zumindest den Kindern mit organisierten Ferienreisen eine Pause vom Alltag.

Familie Lier hat noch keinen gemeinsamen Urlaub verbracht. Familienoberhaupt Jana Lier, 43, kann sich nicht einmal erinnern, wann sie selbst zuletzt weggefahren ist. „Da war ich noch ein Kind“, sagt sie. Jana Lier hat neun Kinder, das jüngste trägt sie auf dem Arm. Evangelina ist eineinhalb Jahre alt. Die Älteste, die 24-jährige Stefanie, ist selber bereits vierfache Mutter.

Man zweifelt jedoch keinen Augenblick daran, dass Lier und ihr Ehemann mit den neun Kindern und sechs Enkelkindern ohne Probleme in Urlaub fahren könnten. „Das ist nur eine Frage der Organisation“, sagt sie. Es seien schlicht die Ausgaben, die gemeinsame Reisen der Großfamilie verhindern.

Die Familie aus Friedrichsfelde ist auf Hartz IV angewiesen. Jana Lier liegt viel daran, dass ihre Kinder dennoch ab und zu etwas anderes als Berlin sehen. Seit Jahren nimmt sie ein Angebot der Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD) wahr. Kinder aus einkommensschwachen Familien bekommen die Möglichkeit, schon für knapp 90 Euro zwei Wochen zu verreisen.

Beträchtliche Kürzungen der Jugendförderung

Früher gab es deutlich mehr Angebote dieser Art. Die staatliche Förderung von Kinder- und Jugendreisen wurde seit den Neunzigerjahren um bis zu 30 Prozent gekürzt. Eine Studie des Bundesforums Kinder- und Jugendreisen von 2009 weist nach, dass Kinder aus Familien mit geringem Einkommen deutlich seltener in Urlaub fahren als sozial besser gestellte Kinder. Dass auch der Nachwuchs aus armen Familien auf Ferienreise gehen kann, dafür sorgen die Bezirke nur auf freiwilliger Basis. Lourens de Jong von den IJGD schätzt die Situation in Berlin ein: „Hier herrscht absoluter Kahlschlag.“

Manche Bezirke bieten gar keine Ferienreisen für Kinder mehr an, so wie Lichtenberg, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf. In Friedrichshain-Kreuzberg möchte Bezirksstadträtin Monika Herrmann (Die Grünen) erreichen, dass das Angebot nicht komplett eingestellt wird. „Das ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder.“ Der Bezirk stellt jährlich 150.000 Euro zur Verfügung. Dafür können die jungen Urlauber an den Wannsee fahren, nach Konradshöhe oder Bad Münder in Niedersachsen. In einigen Bezirken können außerdem Stiftungsgelder für Reisen beantragt werden.

Mal rauskommen

Einen gewissen Ausgleich für das verringerte Angebot schaffen freie Träger wie die IJGD. Das älteste Kind der Lier-Familie, Stefanie, fuhr mit zehn Jahren zum ersten Mal mit den IJGD in die Ferien. Stefanie liebt ihre Geschwister, Kinder, Neffen und Nichten – wie die 13 tätowierten Namen auf ihrem Rücken eindrucksvoll beweisen. „Es tat trotzdem gut, mal rauszukommen“, sagt sie. Auf einer ihrer sechs IJGD-Reisen traf sie auch ihre ehemals beste Freundin. Die beiden jungen Frauen haben noch heute Kontakt.

Für Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien steht aus dem Bildungs- und Teilhabepaket eine Summe von jährlich bis zu 120 Euro zur Verfügung. Das Geld erhält man auf Antrag, es kann komplett für Ferienreisen verwendet werden. Als förderfähig gelten alle Angebote von Trägern der freien Jugendhilfe. Der Landesjugendring Berlin e. V. empfiehlt Eltern, die Träger direkt zu kontaktieren, da es dort zum Teil individuelle Zuschüsse gibt.

Auch Integrationsreisen sind gefährdet

Von dem großen Angebot an Erholungsfahrten des IJGD-Landesverbands sind nur noch einige wenige Integrationsreisen übrig geblieben, bei denen behinderte mit nicht behinderten Kindern gemeinsam Urlaub machen. Daneben gibt es vereinzelt Angebote, die durch private Spenden und durch Stiftungen finanziert werden, wie etwa das „Gussower Erlebniscamp“ der Berliner Stadtmission in Brandenburg.

Doch auch die Integrationsreisen sind inzwischen gefährdet. Für behinderte Kinder kann bei den Bezirken ein Mehrkostenzuschuss beantragt werden, 51 Euro pro Tag, für eine zweiwöchige Reise also 714 Euro. Doch einige Bezirksämter blockieren. Aus Pankow etwa fließe gar kein Geld mehr. Zufrieden sind die Verbände lediglich mit Treptow-Köpenick und Neukölln. Kommt niemand für die Mehrkosten auf, können weniger behinderte Kinder teilnehmen. Dadurch würden wiederum die erhöhten Zuschüsse vom Senat fraglich.

Bei den Liers steht für Leticia und Jeremy, beide 10, in den Sommerferien die erste Reise mit den IJGD an. Auch Kenny, 13, und Chris, 18, sind wieder dabei. Viel lieber noch würde Jana Lier einmal mit der gesamten Familie einen schönen Urlaub an der Ostsee verbringen. Die kennt sie aus ihrer Kindheit. Jana Lier ist Einzelkind.


Quelle: Der Tagesspiegel

Neues sehen trotz knapper Kasse, Am Tierpark 1, 10315 Berlin

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