„Ach, ich fände es gar nicht so schlecht rauszuziehen. Mich nervt Berlin oft ganz schön.“ Der Satz meines Mannes hängt für mich noch eine ganze Weile in der Luft, obwohl meine Freunde thematisch schnell weitergehüpft sind. Rausziehen? Stadtrand? Oder schlimmer noch: Leben in einem Örtchen in Brandenburg? Sorry, da hilft auch Brandenburgs neuer Slogan „es kann so einfach sein“ nicht, mir das Hinterland schmackhaft zu machen. Während ich also noch ein totaler Anhänger des geballten Großstadtlebens bin, hat sich mein Mann hinter meinem Rücken in einen Spießer verwandelt. Haben wir uns nicht immer gemeinsam lustig gemacht über die Leute, die uns einreden wollten, draußen sei alles besser? Die Nachbarn freundlicher, die Wohnungen günstiger und größer, ja, sogar die Sonne schiene heller… Alles Quatsch! Jeder weiß doch, dass sich vor den Toren Berlins frustrierte Ex-DDRler mit AfD-Wählern verbünden, Alt-68er plötzlich über Gartenzäune diskutieren und Fast-Hipster Straßenkehrwochen einführen. „Ich fühle mich leer, ich fühl mich Brandenburg“, singt Rainald Grebe nicht umsonst. Samstagnachmittag ab 16 Uhr ist dort im Nirgendwo nichts mehr los. Die wenigen Geschäfte sind geschlossen und es beginnt die zermürbende Zeit des Wartens. Worauf kann dir keiner sagen. Aber diese Art des Zeitstillstands gibt es nur in Vororten und auf dem Land.
Natürlich ist es verführerisch, in ein Eigenheim zu investieren statt den Miethaien hier weiterhin ausgeliefert zu sein. Und ich bin sogar sehr gern (gelegentlich) in Kladow, Werder und Buch zu Besuch (!) bei Freunden, die es gewagt haben, ein neues kinderfreundliches Leben zu beginnen. Keiner von denen hat übrigens einen Töpferkurs belegt, Gardinen mit der Goldkante oder einen bierbauchfördernden Stammtisch in der Dorfkneipe. Im Gegenteil: Superfood kommt automatisch auf den Tisch, Fitness wird an der frischen Luft betrieben und mit ihren strahlenden Fotos übertrumpfen sie uns alle in den sozialen Medien. Dort draußen ist es für uns ein wenig wie Urlaub. Unser Sohn atmet durch und genießt es, mit den Vorstadtkindern auf autoleeren Straßen zu spielen. Mein Mann fachsimpelt über Rasenmäher und Dachbodenausbau, als sei er schon mittendrin. Und selbst ich finde es durchaus angenehm, auf einer Gartenliege selbstgemachte Limonade zu schlürfen und die Großzügigkeit der Wohnräume zu bestaunen. Bis der Nachbar uns mit Heavy Metal beschallt, meine Freundin davon erzählt, dass sie bei Westwind nicht mehr grillen dürfen, weil der Neureiche von schräg gegenüber geklagt hat, und sie nun die Kellerfenster vergittern lassen, weil zum dritten Mal eingebrochen wurde. Vor allen Dingen: Selbst dort in der perfekten Idylle ist nicht immer Sommer. Im Winter verstärkt sich das Gefühl festzustecken. Kein Laut dringt durch die geöffneten Fenster und vor der Tür versinkt die schöne Landschaft bereits am Nachmittag in der totalen Finsternis.
Auch kann ich mir nicht vorstellen, morgens im Stau stadteinwärts zu stehen und nachmittags mit denselben Kolonnen stadtauswärts zu tuckern. Die Alternative dazu sind überfüllte Züge und Busse, in denen ich innerhalb von zwei Wegstunden meine gesamte Vorstadtentspannung verlieren würde. Wegen jedem Mädelsabend müsste ich ein Taxi für 70 Euro mit einkalkulieren und spontane Verabredungen würden meinen inneren Schweinehund vermutlich stets überfordern… jetzt noch los? Mit dem Auto? Dann kann ich nichts trinken. Mit den Öffis? Dann kann ich nur bis 23 Uhr bleiben und schwups: lande ich gedanklich schon wieder beim teuren Taxi. Und was ist, wenn der Kleine anfängt, das tolle Berliner Nachtleben zu entdecken? Kino, Clubs, Restaurants, Freunde treffen… bin ich dann das Rund-um-die-Uhr-Taxi? Dafür könnten wir ihn die nächsten zehn Jahre gesund aufwachsen lassen und ihn von unserer bisherigen Heimat, dem Schöneberger Drogenzentrum, fernhalten. Vielleicht wird er dann aber einer dieser leichtgläubigen Provinzler, die nur um cool zu wirken, jeden Mist ausprobieren, der den Stempel gefährlich trägt.
Als Kind des Ruhrgebiets habe ich vermutlich nicht das Zeug dazu, außerhalb von Abgasen und Lärm glücklich zu werden. Wenn man eine Familie hat, darf man sich allerdings nicht mehr als Zentrum des eigenen Universums betrachten. Und wenn ich jetzt von einem Autofahrer angepöbelt werde, weil ich ihm als Radfahrer grundsätzlich ein Dorn im Auge bin, wenn der Supermarktkassierer sich schlecht gelaunt beschwert, dass ich ausgerechnet die Packung Müsli genommen habe, deren Strichcode sich nicht lesen lässt, wenn mich wieder jemand anrempelt, obwohl der Gehweg breit genug ist, und wenn ich dann zum dritten Mal am Tag in einen Hundehaufen vor unserer Haustür getreten bin, frage ich mich: Vielleicht ist es draußen in der Vorstadt doch schöner?