Fremdgehen und Tinder – wenn man da zwei Minuten drüber nachdenkt, vielleicht auch nur zwei Sekunden, fällt einem auf: Das geht eigentlich nicht so gut zusammen. Zumindest dann nicht, wenn man die Dating-Plattform so nutzt, wie sie gedacht und angelegt ist. Sprich: Man lädt ein bis fünf Fotos von sich hoch, mit denen man ja erst wirklich Werbung für sich machen kann, und ist mit diesen für andere Flirtsuchende auch sichtbar. Klar, man kann seine Karte auch ausblenden, aber dann lernt man auch niemanden kennen. Und klar, man kann theoretisch ein gefaktes Foto von sich hochladen – aber den Stress, diesen Quatsch einem potenziellen Date dann erklären zu müssen, tun sich auch nur die wenigsten an. Deswegen kam beides auch für meinen Bekannten Karl, 34*, nicht infrage, der sich entschied: Ich bin zwar in einer Beziehung, seit sechs Jahren schon. Und die ist offiziell monogam. Aber ich melde mich jetzt trotzdem bei Tinder an, mit Fotos und allem Pipapo. Und gehe über die Dating-Plattform auch fremd. Auf Ansage.
Als ich davon erfuhr, empfand ich eine Mischung aus völligem Unverständnis, aber auch eine gewisse Faszination. Wie zur Hölle kommt man darauf, heimlich fremdgehen zu wollen und Tinder als Wirkungsstätte dafür auszuwählen? Es gibt doch immer jemanden, der jemanden kennt, der dort ebenfalls angemeldet ist. Meist sogar mehrere Personen. Die können einen doch jederzeit dort entdecken und zu seiner Freundin marschieren und rufen: „Sag mal, wusstest du, dass Karl …?“ Und die würde dann rufen: „Bitte WAS? Nee, das wusste ich nicht, ich glaube, mein Schwein pfeift!“ Oder sowas in der Art. Und dann wäre vermutlich erstmal Land unter in der Beziehung. „Ja, die Gefahr, dass mich jemand kennt und das dann auch meiner Freundin erzählt, die besteht schon“, sagt Karl. „Ich hab sogar schon mal ein, zwei Bekannte dort gesehen. Aber da die kein intensiveres Verhältnis zu meiner Freundin haben, war denen das vermutlich egal.“ Ganz schon abgebrüht. Zumal er weiß, dass seine Freundin definitiv gegen eine offene Beziehung ist. Das Thema hatten sie bereits.
Tinder macht fremdgehen leicht – findet Karl
Sehenden Auges in den Abgrund, würde ich sagen. Und ein bisschen was Zerstörerisches hat das Ganze in der Tat. Denn Karl sagt, dass er sein Profil bei Tinder oder einer anderen Dating-App immer nur aktiviert, wenn es ihm in der Beziehung gerade mal wieder richtig schlecht geht. Und das passiert in regelmäßigen Abständen immer wieder. Keine Zuneigung mehr, nur Streit, nur Stress. „Das ist schon so ne Art Hilfeschrei von mir. Ich weiß nicht mehr weiter, ich komme nicht mehr an sie ran, fühle mich allein. Und suche dann Bestätigung über andere Menschen.“ Erst vor wenigen Monaten war mal wieder so eine Phase. Da hat er gleich in einer Woche mehrere Dates in seinen Alltag gequetscht, mit einer hat er nur gequatscht, mit einer anderen hatte er ein klassisches Sex-Date. Es tue ihm in dem Moment einfach gut, auch wenn das organisatorisch schon anstrengend sei, diese Heimlichtuerei ebenfalls. Als ich nachbohre, was für ein Selbstbild er sich da denn zurechtzimmere, wie er seine eigenen Bedürfnisse so ohne weiteres für einen Moment über die „Regeln“ der Partnerschaft stellen könne, wie das denn mit dem schlechten Gewissen sei, sagt er, dass sich seiner Freundin gegenüber das schlechte Gewissen in Grenzen hält. Wenn er fremdgegangen ist und nach dem Tinder-Date nach Hause kommt, sieht er sogar einen positiven Effekt für die Beziehung: „Ich kann ihr dann viel besser zuhören, wenn sie wieder nur von ihren Problemen erzählt.“ Mehr noch, es sei sogar ein gutes Gefühl, Schuld auf sich zu laden – und damit aus der Opferrolle zu entkommen. Immer nur der sein, der für die Liebe kämpft, der den Stress seiner Freundin abbekommt, der zurückgewiesen wird – so sieht er das zumindest – diese Rolle geht dauerhaft nicht. Aber wenn er dann auch mal ausbricht, sein Ding macht, dann hält er auch den Ärger über seine Freundin wieder besser aus.
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Darüber muss ich erstmal nachdenken. Eine Frage bleibt aber: Warum trennt er sich nicht einfach, wenn alles so blöd ist? Die beiden haben keine Kinder, was ja gerne als Grund genannt wird, eine dysfunktionale Beziehung nicht zu beenden. Und auch diese Antwort ist erstmal überraschend: „Wenn ich eine Weile bei Tinder bin, fremdgehe oder auch nur mit Frauen chatte, das gibt mir für den Moment erstmal ganz viel. Alleine das Kommunizieren ist spannend, das Austesten, Anbahnen. Aber erstens habe ich den anderen Frauen gegenüber schnell ein schlechtes Gewissen, weil ich ja klarstellen will, dass ich in einer Beziehung bin. Und aus uns nicht mehr werden kann. Und zweitens strengt mich das Ganze auch echt schnell an. Ich habe ganz von allein schnell keine Lust mehr darauf und weiß den Wert meiner Beziehung wieder zu schätzen. Eigentlich bin ich ja gerne mit meiner Freundin zusammen, ich will das nicht aufgeben.“ Irgendwie, eigentlich. Dass dieser Weg ganz schön selbstgerecht und Lügen und Betrug nicht wirklich das Sympathie- und Karmakonto füllen, weiß Karl selber. Und dass er jederzeit erwischt werden kann, ob via Dating-App oder anderswo, ebenfalls. Das nimmt er in Kauf. Ich mutmaße, dass er es sogar ein bisschen einkalkuliert, dass er provoziert, dass „etwas passiert“ – Hauptsache, kein Stillstand in einer Beziehung, in der es hakt. Und wenn es das große Drama ist. Feige? Vielleicht. Karl sagt aber ganz klar: „Ich bin nicht bei Tinder, um eine Frau kennenzulernen, mit der ich eine ernsthafte Beziehung anfange und dann mit ihr meine Freundin ersetze. Die mir praktisch einen Grund gibt, mich zu trennen. Eine Trennung muss ich, wenn es mal soweit sein sollte, alleine schaffen.“ Karl will eigentlich kein Arschloch sein. Hat seinen Maßstab, was für ihn tragbar ist und was nicht, aber nach seinen ganz eigenen Regeln angepasst. Und Tinder macht es ihm einfach verdammt einfach, sagt er.
Erst fremdgehen, dann merken: Ich will mich nicht trennen
Ich kann zwar nachvollziehen, wie er sich fühlt. Finde es aber trotzdem krass. Denn ich weiß, er IST eigentlich ein netter Typ, dem wichtig ist, wie sich andere Menschen fühlen. Aber hier haben sich im Laufe der Jahre die Grenzen des Mach- und Sagbaren verschoben. Dass dieser Weg trotzdem auch etwas Absurdes hat, wird bei solchen Anekdoten klar: „Bei meinem letzten Sex-Date habe ich geduscht, sie hatte aber keinen Fön. Da ich die nassen Haare Zuhause nicht hätte erklären können, saß ich noch eine Stunde allein in der Kneipe, zum Trocknen. Das war schon ziemlich absurd.“ Genauso wie Tinder fürs Fremdgehen nutzen. Find ich.
Nun ja. Gut, dass ich da mal nachgefragt habe.
Eure Mascha
*Name und ein paar Details wurden zum Schutz der Anonymität geändert – diese Kolumne ist ja kein Fremdgeh-Pranger.