Ein später Abend, eine Bar in Friedrichshain. Knapp 70 Leute sitzen an Tischen, stehen an der Bar oder blockieren den Eingang für eine Zigarette. Oder zwei. Der Großteil von ihnen sieht sich heute zum ersten Mal, dennoch sind alle in angeregte Gespräche vertieft. Wie kommt’s? Sie alle sind Mitglieder der Facebook-Gruppe „Neu in Berlin“. Doch nicht alle sind neu in Berlin.
„Und, wie lange bist du schon hier?“ Diese Frage kann nach einer halben Stunde kaum noch jemand hören. Dennoch ist die Antwort oft eine spannende, die Spannweite reicht von „seit drei Tagen“ bis zu „seit 2006“. Hier am Neu-in-Berlin-Stammtisch finden sich ganz unterschiedliche Arten von Berlinern und Neu-Berlinern. „Es gibt die alten Hasen, die sind schon ewig in der Gruppe und schauen immer mal wieder vorbei“, erzählt Frank Hemsing, einer der Gruppen-Administratoren. „Dann haben wir noch die Erstlinge, die tatsächlich neu in Berlin sind, und die, die sich irgendwo dazwischen ansiedeln.“ Der Stammtisch ist nicht die einzige Aktivität, die fast 20.000 Gruppenmitglieder suchen auf der Plattform Konzertbegleitungen, Sport- und Tanzpartner, jemanden zum Brunchen oder Bouldern und am häufigsten: Leute zum Feiern – mal zu zweit, mal zu dreißig.
Anlass, um mit jemandem zu trinken
Für Peter, einen Betriebswirt, der seit zweieinhalb Jahren in der Stadt ist, sind die Neu-in-Berlin-Aktivitäten eher ein Anlass, um mit jemandem trinken zu gehen, wenn niemand seiner „Handvoll festen Freunde“ Zeit hat. Auch Roberto, seit neun Jahren hier, meint, er schaue immer mal wieder vorbei, „was es so an Leuten gibt“. Spielt da auch der Hintergedanke eines Dates eine Rolle? Schon, aber das sei nicht die primäre Intention. Manchem Gast merkt man an, dass er auf einem Stammtisch zu viel war, einer meint: „Irgendwie führst du dann doch immer wieder dieselben Gespräche.“
Wegen Job und der Liebe nach Berlin
Die Wurzeln der Facebook-Gruppe reichen zurück bis in die fast vergessene Plattform Studi-VZ, dort wurde sie 2006 gegründet. Später siedelte man auf Facebook um, der Gruppengründer ist mittlerweile auf keiner der Seiten mehr aktiv. Heute ist „Neu in Berlin“ im deutschsprachigen Raum unter den größten Gruppen dieser Art und wird von sechs Administratoren gemeinsam verwaltet. Diese erzählen: „Der Grund, warum das bei uns so gut läuft, ist der, dass wir durch klare Regeln für Übersichtlichkeit sorgen.“ So sind etwa Postings, die Wohnungs- oder Stellengesuche, Partneranzeigen oder Werbung beinhalten, strikt untersagt.
Der Zweck der Gruppe ist also das Kennenlernen und das Verabreden gemeinsamer Freizeitaktivitäten. Und das klappt auch. Dennis ist erst seit fünf Wochen in Berlin, er kam des Jobs und der Liebe wegen her, beide Aspekte gehören mittlerweile der Vergangenheit an – Stichwort Kurzlebigkeit.
Nicht auf der Suche nach Freunden fürs Leben
Anastasia, 27, weiß, dass sie nur vier Monate in der Stadt sein wird, deshalb ist sie nicht auf der Suche nach Freunden fürs Leben. Sie ist unsicher, ob die Gruppe es in Ordnung findet, wenn sie nur eine Beschäftigung will, solange sie da ist. Die Administratoren sagen dazu: „Kurzfristige User sind eigentlich nicht so gerne gesehen.
Geschlechterverhältnis ist meist ausgewogen
Doch es gibt auch Berliner, die ihre ‚Kiez-Scheuklappen‘ ablegen wollen, um Neues zu entdecken. Gerade für die sind Touristen oder Praktikanten, die nicht hier leben, spannend, denn die informieren sich ganz anders über die Stadt.“ Und natürlich ist Flirten ein Thema. Peter etwa ist der Meinung: „Wenn eine attraktive Frau fragt, ob jemand Lust auf eine Bar hat, bekommt sie schnell mal 50 Antworten, als Mann ist das anders.“ Die Administratoren gestehen: „Der Stammtisch ist für manche eine Baggergelegenheit, doch das Geschlechterverhältnis ist meist ausgewogen, also denke ich nicht, dass das jemand als störend empfindet. Überall wo sich junge Leute treffen entstehen Liebeleien.“
Nicht ganz ohne Stolz erzählen sie von einem Baby, das wohl aus einer Stammtischbekanntschaft heraus entstand. Julia ist erst seit wenigen Tagen in Berlin, sie ist ganz ohne bestimmte Absichten mit der Gruppe unterwegs. „Ich kann vorher nicht wissen, ob hier eine Freundschaft entsteht, eine flüchtige Bekanntschaft oder sogar eine Beziehung. Was passiert, passiert“, sagt die Marketingmanagerin.
Profitgier würde nur zu Problemen führen
Das Konzept der Gruppe hat Erfolg, sie wächst dynamisch. Dies bleibt auch kommerziellen Interessenten nicht verborgen – das Administratoren-Team erzählt von mehreren Angeboten, das Projekt zu kommerzialisieren, sie kommen von Event-Agenturen oder App-Entwicklern. „Das funktioniert in Berlin nicht“, meint ein Administrator dazu, „Niemals!“, der nächste. Profitgier würde nur zu Problemen führen, da sind sie sich einig.
Das spontane Berliner Flair würde verloren gehen und auch die Aufteilung des Gewinns würde nur Zeit und Nerven kosten. Keiner der Administratoren sieht diese Tätigkeit als Full-Time-Job. Dennoch machen sie es gerne. Einer davon sogar jetzt noch, obwohl er seit zwei Jahren in Stuttgart lebt: „Ich wollte das Baby einfach noch nicht abgeben“, sagt er.