Nördlich der Rudower Straße, die von der A 113 überquert wird, steht ein wuchtiges Holz-Heizkraftwerk. An der summenden Autobahn ragt eine hübsche, hölzern anmutende Lärmschutzwand himmelwärts, die mit ehemaliger Grenzsicherung allerdings nichts zu tun hat. Auf dem Radweg, der an der Böschung dieser Wand entlangführt, steht eine orangefarbene Infosäule samt Ruhebank. Neben dem breiten Teerweg erstreckt sich eine halbwuschige Wiese mit jungen Birken, begrenzt von einem doppelten hohen Metallzaun. Zwischen dessen grünen Gittern wuchern Büsche, Bäumchen, Unkraut – rund um eine Bröckelmauer, die in diesem Terrarium über mehrere hundert Meter, von der Straße bis hinein in den Park, zum Anstaunen ausgestellt ist. Wo der Neudecker Weg in die Rudower Straße übergeht, erstreckt sich das Gelände rechter Hand.
Ein wenig bekannter Abschnitt „Hinterlandsicherungsmauer“
An zwei Stellen, auf denen Betonplatten einen festen Weg durch die Wiese markieren, sind Gitter und Mauer durchbrochen. Auf der anderen Seite der eingesperrten Mauer verläuft bis zum Neudecker Weg hinter Gehölz und Gebüsch ein weiterer schmaler Parkweg, auf dem „Leinenzwang für Hunde“ und ein „Verbot für Reiter“ herrscht. Die Mauer entzieht sich hinter einem dornbüschigen Wäldchen den Blicken und krümmt sich im Schatten eines steilen Hügels elegant um einen Kiessee. Auch hier bleibt der Zugang versperrt, zusätzlich ist dort „Baden und Angeln verboten“. Blühende Seerosen bedecken den Teich so märchenhaft, als erwarte dieses Niemandslandidyll das Auftauchen des Froschkönigs. Der im 64 Hektar großen, 2009 eröffneten Landschaftspark Rudow-Altglienicke gehegte, wenig bekannte Abschnitt „Hinterlandsicherungsmauer“ stammt – wie die 1,3 Kilometer lange East Side Gallery in Friedrichshain – aus einer Phase des DDR-Grenzausbaus, mit der erst Jahre nach dem Primär-Mauer-Bau am 13. August 1961 begonnen wurde.
Der bewachsene Trümmerberg am Kiesteich, um den sich das heutige Geschichtsmonument herumschlängelt, diente bis 1958 als Müllkippe. In dem Kombinat „Industrielle Mast“, das nahe der Hinterlandmauer, vermutlich auf dem Terrain eines NS-Zwangsarbeiterlagers, errichtet worden war, wurden Broiler produziert. Wer dort arbeitete, brauchte einen Dauerpassierschein.
Die bröselnde Hinterlandmauer
Wer sich aber heutzutage, als Besucher des authentischen Ortes, nah heran, von der Panorama- in die Zoom-Perspektive begibt, erlebt hier hintergründige Irritationen intensiver als an City-Touri-Trampelpfaden. Da wird die umdschungelte Dornröschen-Mauer zum Zoo-Insassen, ein vormals gefährliches Monster-Exponat, das natürlich verfällt. An vielen Stellen sind Fenster in den Beton gebrochen, mithilfe rostender Gitter stabilisiert. Durch solche Lücken kann man anders als dazumal nach hüben oder drüben spähen, ins Grüne, ins Weite. Schnecken sammeln sich auf der Mauer und an dem grünen Zaun, in dem ein Katzentor kleine Parkbewohner zum Wildwechsel lockt. Unter verblassenden Graffiti früher Postwendejahre („Fuck Irak“, „Hi Mom and Dad“, „Go Home Nigger“) werden Reste der ursprünglich weißen Tünche erkennbar, vor der sich Flüchtende treffsicher abzeichnen sollten. Ab und zu streift ein Hund samt Herrchen durch die Wiese, Jogger und Radler ziehen die Lärmschutzwand entlang.
Ein paar Betonteile im Mauer-Käfig hängen schräg: als kollabiere da eine Kulissenkonstruktion und drohe, endgültig umzustürzen. Der Geschichtslernpfad zeigt die Realisierung eines Gefängnisstaates als „Industrieller Knast“ – mit den vorgefertigten Standardelementen seines Baukastensystems. Er verweist Spaziergänger an der bröselnden Hinterlandmauer auf tröstliche Halbwertzeiten von Diktaturen – und provoziert die Frage zum 13. August: Ob das berüchtigte Bauwerk selbst unsere ominöse „Mauer in den Köpfen“ überdauern wird?