In Alt-Müggelheim angekommen laufe ich einen schmalen Waldweg hinunter, den mir ein Wanderführer über das Berliner Umland ans Herz gelegt hat. Entlang der „Großen Krampe“, einem Seitenarm der Dahme, herrscht angenehme Ruhe. Kein Mensch ist zu sehen, kein Auto zu hören. Meine einzigen Gefährten an diesem Herbstnachmittag sind „Bäume des Jahres“ aus der Zeit zwischen 1990 und 2004, die bereits auf einer großen Tafel in der Nähe des Parkplatzes angekündigt wurden: Wildbirne, Bergahorn und Co. Die prämierten Edelgewächse befinden sich zu meiner Linken, aneinandergereiht in einem kleinen Mischwald. Zu meiner Rechten erstreckt sich die schmale Bucht, auf der ein merkwürdiges Gefährt herumtuckert: eine Art Hausboot in Sprungbrett-Optik.
Ich halte Ausschau nach Pilzen. Maronenröhrlinge, Steinpilze, Pfifferlinge. Diese Arten erkenne ich, wenn ich sie sehe. Aber ich sehe keine. „Schnapp, schnapp“ macht es aus Richtung Große Krampe und noch bevor das Rätselraten um den Urheber des Geräuschs beginnt, sehe ich drei Ruderboote über die Wasseroberfläche schnellen, angetrieben von jungen, athletischen Damen, die sich rhythmisch vor- und zurückbewegen. Dieser Ort scheint mir prädestiniert für die Ruderwettkämpfe der Olympischen Spiele 2024 in Berlin zu sein. Wenig später treffe ich dann doch noch ein paar Menschen, passionierte Pilzsammler, genau wie ich, die mir mit strahlenden Augen ihre Beute unter die Nase halten: „Kiek ma hier, Maronenröhrlinge en masse, ’n paar Steinis och. Dit warn juter Tag.“ Ich setze mich ans Ufer der Großen Krampe und atme durch. Es ist idyllisch hier, einfach idyllisch, aber was, um Himmels Willen, soll ich über diesen Ort bloß schreiben?
Ärger macht sich breit. Ärger darüber, dass ich einen Wander-Tipp blindlings als potentiellen Kiezspaziergang interpretiert habe und dafür ans südwestlichste Ende Berlins gefahren bin. Also stehe ich auf, überlege ein Weilchen und verlasse diesen herrlichen Wald aus preisgekrönten Holzgewächsen.
Zurück in Alt-Müggelheim setzte ich mich auf eine Bank und blicke auf das kleine Hafenbecken der Großen Krampe. Ich frage mich, was ich mit diesem angebrochenen Kiezspaziergang anfangen soll, und finde die Antwort keine hundert Meter entfernt. In einem kleinen Park steht eine Gedenktafel mit 32 Namen, Menschen, die allesamt 1945 starben und hier, zwischen Birken- und Ahornbäumen, begraben wurden. Ich spreche ein vorbeischlenderndes Ehepaar auf diese merkwürdige Grabstätte an und werde Zeuge einer hitzigen Diskussion über die Geschichte der Grünanlage. Letztendlich einigen sich die beiden darauf, dass hier einst ein Friedhof existierte, auf dem unter anderem Menschen ruhten, die in den letzten Bombenhageln des Zweiten Weltkriegs ums Leben kamen. Zu DDR-Zeiten sei auf dem Friedhof dann „randaliert“ worden, und nach Begutachtung der Schäden habe sich die Gemeinde gegen die Wiedererrichtung der Grabmäler entschieden.
Berühmte Müggelheimer
Der einzige noch existierende Grabstein gehört einem großen Sohn der Gemeinde: Curt Grottewitz, bedeutender Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Germanist, lebte ab 1891 in Müggelheim und unterhielt enge Beziehungen zum „Friedrichshagener Dichterkreis“ um Wilhelm Bölsche sowie zu den Sozialdemokraten August Bebel und Karl Kautsky. Er gilt als Begründer der Arbeiter-Wanderbewegung, einer Vereinigung, die sich bis 1933 intensiv mit der Natur und ihrem kulturellen Wert auseinandersetzte. Sein ehemaliges Wohnhaus befinde sich nur ein paar Meter entfernt, erzählen mir die beiden Streithähne und deuten vage in Richtung Hauptstraße. Heute beherberge es ein Gasthaus, das unter anderem fantastische Torten und Kuchen anbiete.
Da mache ich mich doch glatt auf den Weg dorthin und stoße in der Nähe der alten Dorfkirche auf einen weiteren prominenten Müggelheimer: Dem preußischen Offizier Johann Jacob Baeyer wurde in der Ortsmitte ein Gedenkstein gewidmet, der jedoch nicht auf militärische Heldentaten, sondern seine Pionierarbeit in der Erdmessung verweist. Der Berliner, unter anderem ein Vertrauter Alexander von Humboldts, war bis zu seinem Tod Präsident des 1869 gegründeten „Geodätischen Institut Berlin“ und hatte maßgeblichen Anteil an der ersten Gradvermessung des europäischen Kontinents.
Das Gasthaus Müggelheim
Im Gasthaus Müggelheim angekommen fällt mein Blick sofort auf ein großes Porträt des früheren Bewohners. Mit strengen Augen wacht Grottewitz, ein junger Mann, kaum älter als ich, über sein ehemaliges Refugium. „Der wurde keine vierzig Jahre alt“, berichtet ein Gast. „Ist beim Schwimmen ertrunken, gleich hier um die Ecke. In der Großen Krampe.“ Ich setzte mich an einen der alten Biedermeier-Tische und bestelle einen Kaffee. Die kleine Gaststube ist liebevoll eingerichtet, Gemälde in verschnörkelten Rahmen schmücken die Wände, das Mobiliar besteht fast ausschließlich aus Antiquitäten. Samt Kaffee und einem Stück Käsekuchen verlagere ich meinen Sitzplatz schließlich auf ein gemütliches Sofa und lasse meinen Tag in Müggelheim noch einmal Revue passieren.