Der Junge mit dem dunklen Teint tänzelt um seinen Gegenspieler herum, treibt ihn kurz vor der Eckfahne in die Enge. Jetzt hat er dem Gegner den Ball abgeluchst, schiebt ihn sich vor den rechten Fuß – und schießt.
Sammelbecken für Menschen mit Migrationshintergrund
Kujtim (21) hat jeden Spielzug über den Zaun hinweg verfolgt. „Das hier war mein erster Fußballclub: der SV Norden-Nordwest 1898″, erzählt der gebürtige Kosovare. Ein Verein mit Tradition, und Sammelbecken für junge Leute mit Migrationshintergrund. „Die meisten waren es gewohnt, dass man als Neuzugang die Sprache nicht konnte.“
Kujtim war acht Jahre alt, als er aus dem Kosovo nach Berlin kam, er sprach kein Wort Deutsch. Dem Sport verdankte er es, dass der Gesundbrunnen seine Heimat wurde, sagt der junge Mann mit den schwarzen Haaren und dem Vollbart. Auf dem Rasen spielten Türken mit Kurden und Kroaten hörten auf die Anweisungen des Trainers, eines Serben. „Ich glaube, ich war sein Lieblingsspieler“, sagt Kujtim. Woher einer kam, war egal. „Es zählte nur, ob er auf dem Platz alles gibt.“
„Hier haben wir nur wenig Freizeit-Angebote“
„Außer Fußball haben wir hier nur wenig Freizeitangebote“, bedauert Kujtim. Hier – das ist im Gesundbrunnen mit seinen 90.000 Einwohnern, einem der Kieze mit dem höchsten Anteil ausländischer Bevölkerung in Berlin. „Rund die Hälfte der Bewohner sind Migranten“, sagt Kujtim. Die Arbeitslosenquote im Ortsteil, der zum Bezirk Mitte gehört (bis 2001 Wedding), ist höher als anderswo in der Hauptstadt. Mit Überfällen und Einbrüchen macht der Kiez regelmäßig Negativ-Schlagzeilen.
Von außerhalb werde das Quartier vielfach als Ghetto stigmatisiert, erklärt Kujtim, „aber das ist ein Vorurteil.“ Das auszuräumen, ist seine Motivation für die Kieztouren. Als er noch aufs Diesterweg-Gymnasium ging, boten zwei pakistanische Mitschüler Führungen unter dem Motto „Rap & Religion“ im Wedding an. Das brachte ihn auf die Idee – zumal er sich mit den Spaziergängen unter dem Dach des Vereins Kultur bewegt auch etwas Geld verdienen kann.
Wo die Boateng-Brüder einst wohnten
Gemeinsam mit seinen damaligen Mitschülerinnen Zeynep (türkische Wurzeln) und Dua (palästinensische) bastelte er eine eigene Route – „zu den Orten, an denen wir uns aufhalten“. Mittlerweile haben alle drei das Abi und studieren. „Manche hier halten uns deshalb für Streber.“ Auch das sei ein Vorurteil. „Aber eher noch sind wir Streber als der Gesundbrunnen ein Ghetto“, sagt Kujtim, der in Potsdam Jura studiert. Deshalb nennen die drei ihre Stadtteilführung ironisch die „Ghetto-Streber-Tour“.
Teilnehmer seien oft „Touristen, die sich für die frühere Heimat der Boateng-Brüder interessieren“. Gruppentouren würden von Lehrern mit Schulklassen, von Studenten oder auch Politikern gebucht, erzählt Dua. Schüler würden über die Terrorakte von Islamisten diskutieren wollen. „Denen erklären wir dann, dass der Islam keinesfalls gleichzusetzen sei mit Islamismus. Dass wir als Menschen, die nach den Regeln des Korans leben, nichts zu tun haben mit Terroristen, die im Namen Allahs schlimme Verbrechen begehen“, sagt Kujtim.
Sozialbauten früher wie heute
Der Rundgang geht weiter am Gesundbrunnen-Center, dem dominanten Konsum-Tempel zwischen Nachkriegsbauten. Graffiti verdeckt graue Fassaden, tiefergelegte Autos parken in zweiter Spur, vor überquellenden Mülleimern picken Krähen. Es geht die Behmstraße entlang, weshalb der Fußball das Gespräch bestimmt.
Kujtim deutet auf das neue Hostel schräg gegenüber, das gut sei für die Durchmischung im Kiez. „Da war früher das Vereinsheim von Hertha BSC und vis-à-vis die Plumpe, das legendäre Hertha-Stadion.“ Bevor der Fußballclub ins Olympiastadion umzog. In den 1970er-Jahren wurden auf dem Gelände Sozialwohnungen für türkische Gastarbeiter gebaut. Heute seien viele Mieter Polen. Oder Leute aus dem Kosovo. „So wie ich.“
„Erst unsere Generation kommt raus aus dem Kiez“
„Unsere Eltern halten sich immer noch nur im Kiez auf“, erzählt Zeynep (21). Auch wegen ihrer mangelhaften Deutsch-Kenntnisse. „Wer Brockensprache spricht, wird als dumm eingestuft“, das hat sie selbst zu spüren bekommen. Sicher ein Grund dafür, dass sie an der Freien Universität neben Geschichte auch Deutsch studiert. „Erst unsere Generation kommt raus aus dem Kiez“, ergänzt Dua, Studentin an der Beuth-Hochschule. Sie will die Stadt mitgestalten, mit dem Bauingenieurwesen hat sie dafür das richtige Fach gewählt. Die 21-Jährige wohnt noch zu Hause, spricht dort Arabisch. „Der Vater will es so, damit wir es nicht verlernen.“
Dass sie Kopftuch trägt, sei kein Gebot des Familienoberhaupts. Dazu hat sich die gläubige Muslimin selbst entschieden, erst vor einem halben Jahr. „Die Kommilitonen akzeptieren es.“ Es sei ihr wichtig, „dass eine Frau mit ihrer Persönlichkeit auftritt“. Sie sei mit der Religion groß geworden, die präge ihren Lebensstil, das wolle sie auch zeigen. „Es war eine gute Erfahrung festzustellen, dass ich mich auch mit Kopftuch sportlich kleiden kann.“
Zeynep, ebenfalls gläubige Muslimin, hat sich dagegen entschieden. Es gehe im Kern darum, „die Reize der Frau, vornehmlich die Brüste, zu verdecken“, argumentiert die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren. Da gebe es unterschiedliche Interpretationen. Sie würde sich in dieser Frage mehr Offenheit innerhalb der muslimischen Community wünschen.
Zu Gast im muslimischen Gebetsraum
Unterdessen sind wir an der katholischen Petrus-Kirche in der Bellermannstraße angekommen. Ein wuchtiger Bau, rot geklinkert. Unauffällig, direkt daneben: ein Treff von Muslimen. „Die enge Nachbarschaft der Religionen ist hier Normalität“, sagt Kujtim. Männer sitzen im „Vorgarten“, trinken Tee. Icabi Karakasoglu springt auf, als er Kujtim erkennt, umarmt ihn herzlich. „Das ist der Moscheemann“, stellt Kujtim den 46-Jährigen vor. „Aksemseddin Camii“ heißt der muslimische Gebetsraum, untergebracht in einer Ladenwohnung. Karakasoglu bittet hinein, nachdem wir unsere Schuhe ausgezogen haben. „Wir beten kniend, verneigen uns – und wollen keinen Dreck auf dem Teppich haben“, sagt Kujtim.
„Die Moschee ist für jeden offen“, unterstreicht Zeynep. „Da muss niemand Scheu haben.“ Der Raum ist in blau und grün gehalten. Die Farben symbolisieren die Erde und den Horizont. „Wissen Sie, warum die Gebetsnische hier eine Rundung hat?“, fragt Kujtim und stellt sich hinein. „Damit der Schall nach außen dringt, während die Betenden in Richtung Mekka gewandt auf dem Teppich kauern.“ Ein Mann betritt den Raum, wendet sich nach rechts. „Eine Frau ginge nach links. Männer und Frauen beten getrennt, um sich mental zu konzentrieren“, erklärt Kujtim. Ansonsten seien die Unterschiede zwischen den Religionen gar nicht so groß, sagt der „Moscheemann“. Die einen würden „den obersten Ingenieur der Menschheit“ Gott nennen, die anderen Allah.
Unter dem Dach des Vereins „Kultur bewegt“ bieten Jugendliche Stadtteilführungen durch den Wedding („Route65“) und durch Neukölln („Route44“) an.Mehr Infos zu den Touren findet ihr auf der Website von Jugendtouren Berlin.
Dieser Artikel ist Teil der „Berliner zeigen Ihre Stadt“-Serie von Berliner Akzente und ist dort zuerst erschienen.