Kommentar

Warum Berlin das solidarische Grundeinkommen wagen sollte

Eine Gruppe mit Kindern, Hund und Altehn sitzt zusammen auf einer Bank im Sonnenschein.
Kinder und Großeltern werden oft von den Müttern versorgt – mit dem Grundeinkommen werden mehr Pflege- und Betreuungstätigkeiten bezahlt.
Ab August ist es soweit: Berlin testet mit 1.000 Langzeitarbeitslosen fünf Jahre lang das solidarische Grundeinkommen. Warum das entgegen aller Kritik immerhin ein notwendiger Schritt hin zur Umgestaltung der Arbeitswelt ist ...

Berlin ist nicht die erste Stadt, die mit dem Modell Grundeinkommen experimentiert. In Finnland, Kenia oder Namibia wurde und wird das bedingungslose Grundeinkommen bereits mit Versuchsgruppen ausprobiert. Und wer das belächelt: Solche politischen Experimente sind keineswegs Utopien für Träumer, sondern mögliche Antworten auf einen Wandel der Arbeitswelt, der uns bevorsteht und eine Transformation unseres Sozialsystems verlangt.

Denn eines ist nicht von der Hand zu weisen: Die meisten Wirtschaftsexperten sprechen angesichts der raschen Digitalisierung von einem Ausfall vieler Jobs, die von Maschinen und künstlicher Intelligenz übernommen werden. Eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftswissenschaften (ZEW) geht gar von jedem zehnten Job aus. Das trifft nicht nur Dienstleister aus Telekommunikation, Versicherungsbranche oder Einzelhandel – auch in der Industrie sind Jobs wie Mechatroniker, Buchhalter sowie Lager- und Transportarbeiter gefährdet. Selbst Anwälte können in Zukunft ihre Jobs durch Digitalisierung verlieren, der Algorithmus ist bereits geschrieben. Und wo sollen diese Arbeitslosen neue Stellen finden in einer ohnehin zunehmend prekären, spezialisierten Arbeitswelt? Ein Grundeinkommen könnte die Lösung sein.

Dabei unterscheidet sich Berlin von anderen Ländern, indem es kein bedingungsloses – also einen Grundlohn ohne Verpflichtungen – sondern ein solidarisches Grundeinkommen einführen wird. Dieses Modell könnte man als „Light-Version“ bezeichnen, da es Geld nur gegen Leistung verspricht. Heißt etwas konkreter, dass Arbeitslose angebotene Jobangebote annehmen müssen und hierfür den Mindestlohn erhalten. Das Ziel dabei: Arbeitslose nicht erst zu schwer vermittelbaren Hartz-IV-Empfängern werden zu lassen. „Wir geben den arbeitslosen Menschen schnell wieder eine Chance auf gute Arbeit – fair bezahlt, sozialversicherungspflichtig, freiwillig und unbefristet“, erklärte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller dem Magazin Focus. Das auf fünf Jahre beschränkte Projekt finanziert der Staat, in dem er sozialversicherungspflichtige Jobs in Landesunternehmen, Verwaltung oder bei sozialen Trägern schafft. Geeignete Arbeitslose sollen zum Beispiel als Mobilitätsbegleiter oder Hausmeister arbeiten. Auch unterstützende Tätigkeiten in Schulen, Kitas und Pflegeeinrichtungen sind möglich.

 

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Ein Beitrag geteilt von SPD Tempelhof-Schöneberg (@spd_ts) am Feb 5, 2019 um 1:19 PST

Solidarisches Grundeinkommen – für eine gerechtere Arbeitswelt

Ein solidarisches Grundeinkommen ist bei weitem nicht so transformativ wie das bedingungslose. Es verbessert die Situation für die Wirtschaft aber auf zwei Arten: Gemeinnützige sowie Care-oder-Sorge-Arbeit tauchen aus dem Schatten der Erwerbstätigkeit auf und gelten endlich als richtige, entlohnenswerte Arbeit und nicht als selbstverständliche Privatleistung. Und die überforderte Branche wird durch die zusätzlichen Jobs unterstützt – was laut Berichten von überforderten Pflegern, mangelnder Kitabetreuer und fehlenden Erziehern dringend notwendig ist. Ein weiterer Bonus: Durch diese Tätigkeiten üben Arbeitslose eine sinnvolle Aufgabe aus und haben auf der anderen Seite finanzielle Sicherheit – ein Argument, das man nicht unterschätzen darf. Die Geschichte zeigt, wohin Millionen wütende Menschen ohne Job ein Land bringen können. Nicht in eine positive Richtung, so viel steht fest: Rechtspopulistische Parteien stehen schon am Wegrand bereit und reiben sich die Hände.

Kritikpunkte am solidarischen Grundeinkommen hört man vor allem aus der Wirtschaft. Es sei grotesk, angesichts der boomenden Wirtschaft künstlich neue Jobs zu schaffen. Tatsache ist jedoch, dass Firmen nur gut ausgebildete Fachkräfte in bestimmten Bereichen suchen. Fällt man durch zu hohes Alter, zu wenig Erfahrung oder unpassender Ausbildung nicht in dieses Spektrum, ist die Jobsuche keineswegs so leicht. Außerdem sollen die geschaffenen Arbeiten laut Müller keinen normalen Jobs Konkurrenz machen, sondern neue Tätigkeiten schaffen. Ein weiteres Gegenargument ist, dass durch die vermittelte Arbeit, die weder prekär noch gut bezahlt ist, der Anreiz verschwinde, sich wieder für eigenständige Jobs auf dem richtigen Arbeitsmarkt zu bewerben. Das schade somit den Arbeitslosen eher als dass es helfe.

Kein Ersatz, sondern eine Ergänzung zu Hartz IV

Kritiker sagen außerdem, das solidarische Grundeinkommen sei nur Augenwischerei und nichts anderes als eine klassische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Jedoch gibt es einen Unterschied zwischen diesen beiden Lohnformen: Das solidarische Grundeinkommen ist komplett freiwillig, jeder Arbeitslose darf selbst entscheiden ob er dieses Angebot beantragt oder annimmt. Und wenn das Geld des Tariflohns nicht ausreichen sollte, um aus der Bedürftigkeit zu kommen, werde mit Hartz IV aufgestockt. Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sagt dazu dem Magazin DIE ZEIT, das solidarische Grundeinkommen unterscheide sich von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch unterschiedliche Finanzierung und geringere Bezahlung. Das Hauptziel sei nicht, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. „Es geht eher darum, sie zu stabilisieren, ein Abrutschen in Krankheit zu vermeiden und ihnen Würde und Respekt zurückzugeben“, so Schupp.

Denn die Zielgruppe des solidarischen Grundeinkommens sind Menschen, die zwischen ein und drei Jahren arbeitslos sind und somit Gefahr laufen, in den Hartz IV-Bezug abzurutschen oder gerade erst dort gelandet sind. Statt diese mit endlosen Weiterbildungsmaßnahmen zu beschäftigen, will man sie auf dem Arbeitsmarkt halten. Es soll vermieden werden, dass sie sich in der Arbeitslosigkeit einrichten und den Anreiz verlieren, sich wieder einzugliedern. „Arbeit schaffen, statt Arbeitslosigkeit verwalten“ ist das Motto der SPD.

Natürlich birgt ein so gewagtes und teures Projekt Risiken. Und natürlich wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie das bereits der Berliner Verein Mein Grundeinkommen vormacht, wünschenswerter. Wenn aber in dieser politischen Konstellation kein bedingungsloses, sondern nur ein solidarisches Grundeinkommen möglich ist, ist es immerhin ein Anfang.

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