Seit einigen Wochen zeigen Matthias Lilienthals Künstler auf dem Flugfeld Tempelhof die ironische Weltausstellung „The World is not Fair“. Diese lädt mit ihren rot-weiß gestrichenen Pavillons zu Film, Performance und Installationen ein. Lilienthal feiert seinen Abschied wie die Queen ihr Thronjubiläum.
Die Stadt will erobert werden
Mit einem Theaterexperiment der Sonderklasse will die Stadt ein letztes Mal erobert werden. Eine 24-stündige Reise im Doppeldeckerbus durch den Westen Berlins. Neun Stationen werden angefahren und bespielt. Das geht von Grunewald bis nach Neukölln und vom Märkischen Viertel bis nach Steglitz. Allein die Vorstellung, das zu planen, lässt einen dem Wahnsinn nahe kommen. Für das Mega-Projekt, das eine Geduldsprobe für Planer und Zuschauer ist, das temporäre Kunst- und Spielorte erkundet, das absackt und wieder erwacht, wurde dieses Bollwerk eines Romans von David Foster Wallace „Unendlicher Spaß“ genutzt. Die negativ-Utopie umfasst 1600 Seiten, die ganze Bibliotheken mit der Kraft eines Tsunamis mitreißen und in die Tiefe ziehen. 2008 wählte auch David Foster Wallace die Tiefe, den Freitod. Seine auf Papier gebannten Gedanken über Drogen und Depressionen sind monströs und grandios zugleich – und unmöglich auf der Bühne darzustellen.
Doch irgendwann im Bus kommt einem dieser Gedankenblitz: Wahrscheinlich kann man „Unendlicher Spaß“ auch gar nicht lesen, so ganz allein. Das ist von Allem zu viel. Es kann nur so gehen. Allein im gemeinsamen Erlebnis lässt es sich überwinden. Die Selbstreferenzen, die in tausend kleine Stücke zerfallen sind, werden im Ansatz von den Spielern von Gob Squad bei der vormittäglichen Performance im Tennisclub LTTC Rot Weiß angedeutet. Von da geht es immer weiter – vom Tag durch Nacht und bis zum Morgen. Die Drogen, die das HAU austeilt sind Schlafentzug und Erschöpfung. Bis zum ersten Bier wird es noch bis tief in die Nacht dauern.
„Ich bin ziemlich komplex“
Nach Lilienthals Reihe „X Wohnungen“ übernimmt „Unendlicher Spaß“ die Idee im XXXL-Format, aber das Ganze ist diesmal viel größer als die Summe seiner Einzelteile. Da ist der Weg das Spiel. Das Spiel ist bei allem Spaß seinen Regeln und Orten unterlegen. Obwohl inzwischen Allem ein Format gegeben wird, sprengt diese Tour de Force ihre Formatierung.
Der erste kollektive Durchhänger kommt dann abends gegen sechs. Die Busreisegruppe ist inzwischen im Vivantes Klinikum Neukölln gelandet. Zum Glück ist das gemeinschaftliche Einnicken keine Blamage, sondern, im Gegenteil, erwartungsgemäßer Bestandteil des Programms. Außerdem wurde man von den Schauspielern zu Beginn der Tour vorgewarnt. Im Fitnessraum des Tennisklubs in Grunewald lässt man Foster Wallaces Enfield Tennis Academy auferstehen. Regisseur Peter Kastenmüllers künftige Eliten grinsen zwischen Beinmuskelmaschine und Fahrrad-Ergometer ein selbstgefälliges „Ich bin ziemlich komplex“ über den Platz. „Weichei-Handtuchwerfer“, die hier vor dem Abpfiff den „Warmdusche“-Abgang machten, würden sich in dieser Leistungsgesellschaft natürlich selbst aus dem Rennen katapultieren.
Ob Regen oder Sonnenschein, die Leute vom HAU haben das im Griff. Darauf, dass Sonnenempfindliche Zeitgenossen sich für die Außenstationen Sonnencreme bei ihm abholen sollten, weist Lilienthal die Zuschauer fürsorglich hin. Einer der für den Roman wichtigen Konzerne wird wohl nach dieser Tour Probleme auf dem Absatzmarkt haben: Ein Großteil der Story spielt – da hier Firmen das Recht erkaufen können, Jahren den Namen eines Ihrer Produkte aufzudrücken – im „Jahr der Inkontinenzunterwäsche“. Bei der mehr als ausreichenden Versorgung mit Dixieklos ist für jene die Insolvenz nicht weit.
Auch 24 Stunden müssen enden
Das Institut für Mikrobiologie wartet mit der Krönung des Tages auf. Im Hörsel wird ein Live Video mit Übersetzer Blumenbach auf die Projektionsfläche übertragen, welches das Publikum von der Tribüne aus verfolgen kann. Mit Ausdauer beantwortet er geistreich und ganz ohne Anwandlungen alle Fragen, die dem Publikum spontan einfallen. Leider habe er den Schriftsteller nie persönlich kennengelernt; doch, es habe sechs Jahre gebraucht, die Übersetzung des angeblich unübersetzbaren Mammutwerks zu beenden; und: Ja, den „Unendlichen Spaß“ in diese bewusst bunte Form der 24-Stunden-Überforderung zu bringen, leuchte ihm absolut ein.
Neben dem hoch charmanten Blumenbach ist der zweite unangefochtene Star des fulminanten HAU-Finales: die Stadt. Es ist ein Trip durch den einst sagenumwobenen Westen der sechziger und siebziger Jahre; die Zeit und der Ort an dem Lilienthal aufwuchs.
„Ich bin ziemlich komplex.“ Die Reise vom Steffi-Graf-Stadion, in dem einst wichtige Wettkämpfe ausgetragen wurden, bis zum alltäglichen Finanzamt in Reinickendorf löst diese wunderbare Drohung ganz beiläufig ein und deckt zudem dramaturgisch wasserdicht das Amerika der nicht allzu fernen Zukunft ab, wie Wallace es erdacht hatte. Das Finale der Lilienthal-Ära blieb so nah am HAU, wie es nur geht. Der Spaß war groß, doch leider ein endlicher!
Weitere Infos zu anstehenden Touren gibt’s hier.