Wo singt ein Kneipenchor sich ein? An der Theke natürlich. Und die steht an diesem Abend auf dem Gehweg der Sorauer Straße in Kreuzberg. Ein dreirädriges Bierfahrrad, das daherkommt wie ein amerikanischer Straßenkreuzer, zwei Fässer Craft-Beer in seinem Bauch. Konrad Betcher schart den Chor um sich, zwei Dutzend Frauen und Männer irgendwo zwischen 20 und 40. Eine Vorgabe aus der Melodica, ein paar Tonleitern. Los geht’s.
„Don’t blame it on the sunshine, don’t blame it on the moonlight“, hallt es durch den Wrangelkiez. „Don’t blame it on the good times, blame it on the boogie.“ In den oberen Etagen liegen Mieter in den Fenstern. Junge Frauen zücken unvermittelt ihr Smartphone. Auf der Treppe zum Hopfenreich wogt das Bier in den Gläsern der Zuhörer.
Im Männergesangsverein haben sich die letzten überlebenden Sangesbrüder aller umliegenden Dörfer zusammengetan, um wenigstens am Volkstrauertag etwas Staatstragendes anstimmen zu können. Und für den Kinderchor haben Muttis die Kleinen in freche T-Shirts in bunten Farben gestopft, während Halbplayback und Mikrofon-Unterstützung eine Klangkulisse wie aus der Tonkonserve erzeugen.
Auch Nino Skrotzki hat so etwas erlebt, als er vor über vier Jahren in Berlin einen Chor suchte. „Alles ein bisschen steif“, erinnert er sich. „50 plus.“ Das kann’s nicht sein, dachte er. Warum also nicht einen eigenen Gesangsverein gründen? Sein Kumpel Mathias Hielscher gab den entscheidenden Anstoß: Er wusste von Pubchören in England. Herumgefragt im Freundeskreis, schon waren 30 Leute begeistert. Der Berliner Kneipenchor war geboren.
Im Januar 2011 nahmen sie die Probenarbeit auf, Woche für Woche, so viel Ernst musste sein. Am Anfang standen zwei Stimmen, im Laufe der Zeit wurden die Arrangements komplexer. Schließlich haben sie einen gewissen Anspruch, etwa ein Drittel der Leute hat ein musikalisches Vorleben. Nino Skrotzki selbst war Sänger der Band Virginia Jetzt!, die einige Jahre zum Inventar des deutschen Indie-Pops gehörte. Auch der frühere Viva-Mann Nils Bokelberg war mal dabei. Chorleiter Konrad Betcher greift sonst bei Casper in die Tasten. Ex-Virginia-Jetzt!-Bassist Mathias Hielscher beschränkt sich bis heute lieber auf die Organisation.
Kneipenchor, das war schräg genug, um in Berlin schnell in Mode zu kommen. Gleich zweimal traten sie bei Klaus Wowereit im Roten Rathaus auf, für die Manic Street Preachers trällerten sie in den Hansa-Studios, sie waren im Soho House und kamen ins Fernsehen. Ihre eigentliche Bestimmung aber, das sind die Kneipentouren, zwei- bis dreimal im Jahr, so wie am Sonnabend in Kreuzberg. Man muss die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Und sei es an der Theke.
Immer der rollenden Theke hinterher
„Happy“ singen sie genauso wie „Männer“ und „Blister in the sun“. Zwei Dutzend Frauen und Männer sind es an diesem Abend. Der Bass lehnt lässig am Bierfahrrad. „Jetzt kommt ein neues Lied!“, ruft Sven Rathke in die Dämmerung. Auch er ist kein Debütant. Auf der Bühne nennt er sich sonst Sven van Thom, trat schon mal für Brandenburg beim Bundesvision Song Contest an. Das neue Stück im Repertoire stammt von Savage Garden. „Aber wir konnten es retten.“ Die ersten Mädchen juchzen, als Jamie MacDonald mit tiefem Timbre „Truly, Madly, Deeply“ säuselt.
Die ersten Zuhörer klettern auf Hocker und Fensterbank. „Paparazzi“ wabert durch die stickige Luft. „Das, was ich will, bist duuuu“, stöhnt die Menge wie in den besten Tagen der „Münchener Freiheit“ in einem Anflug von Bierseligkeit. Ein Kenner versucht zwei Stammgästen, mehrere Flaschen Flens vor sich, das Video von „You can call me Al“ zu erklären.
„Absolute Ruhe“, fordert Sven. „Wir brauchen absolute Ruhe! Mit Gefühl jetzt“, stimmt Nino ein. „Zum ersten Mal mit Gefühl.“ Ein Wink von Konrad und feierlich wie ein Kirchenchor heben die Kneipensänger zu Coldplay an: „I hear Jerusalem bells are ringing, Roman Cavalry choirs are singing …“
Heute Abend heißt das: „Eigentlich muss man bei der dritten Station schön besoffen sein.“ Wie sang Leonard Cohen? „Like a bird on the wire, like a drunk in some old midnight choir I’ve tried in my way to be free.“
Finale auf staubigem Pflaster
Da kommt es am Ende auch nicht mehr so genau darauf an, wo man die Last des Alltags abschüttelt. Der dritte Stopp ist im John Muir in der Skalitzer Straße geplant. Doch dort ist offenbar niemand auf die Wandersänger eingestellt. Also rotten sie sich auf einem staubigen Streifen gegenüber zusammen. Chor und Publikum eine Traube. Mittlerweile sind es um die 100 Leute. Die Lieder wiederholen sich nun, aber dann kann man umso besser mitsingen.
Feuerzeuge leuchten auf, als der Kneipenchor noch einmal „Viva la Vida“ anstimmt. Getragen, beinahe andächtig. „I know Saint Peter won’t call my name … when I ruled the world.“ Eine tiefe Verneigung, Jubel, ein paar Mädels aus der Alt-Stimme betteln um „Africa“ und „God Only Knows“. Aber Konrad winkt ab, genug für heute, geht zum Fahrrad und zapft sich noch ein Bier. Einigen Nachbarn war es schon mehr als genug. Links und rechts ist die Polizei aufgefahren, zwei Autos, ein Mannschaftswagen. Dabei wollten sie doch nur, auf ihre Weise, ein bisschen frei sein. Hier, um Mitternacht, unter der Hochbahn. Betrunken oder nicht.