Kaum spürbar legt die Fähre ab. Die Wellen schwappen gegen den Bug, einen kurzen Moment rauscht der Wind um die Ohren, dann legt die Fähre auch schon wieder an – und man ist mitten in der Idylle der Schulfarm Insel Scharfenberg. Auf der kleinen Insel im Tegeler See befindet sich diese Berliner Besonderheit – ein staatliches Ganztagsgymnasium mit angeschlossenem Internat. Reethäuser, Laubwald und ein eigener Bauernhof gehören zur Schulfarm. Pferde, Schafe und einen Strand gibt es. Und, jetzt im Sommer, 60 Jugendliche, die mitten in den Ferien nichts lieber wollen als hier zu lernen.
In den Sommerferien finden auf Scharfenberg Begabtencamps statt. In den ersten Wochen ist es die Junior-Akademie, ein Angebot für Siebt- bis Neuntklässler. Nicht alle haben eine nachgewiesene Hochbegabung, also einen IQ von über 130, aber alle Teilnehmer müssen eine besondere Lern- und Leistungsbereitschaft mitbringen. Viele gehen in Schnelllernerklassen oder haben eine Empfehlung ihrer Schule bekommen. „Manchmal muss man die Kinder ein bisschen bremsen“, erzählt die Leiterin der Junior-Akademie, Ulrike Krumrey und lächelt. „Hier können sie endlich unter Ihresgleichen sein und tun, worauf sie Lust haben. Manchmal wollen die Kinder nicht mehr aufhören zu lernen oder stehen schon vor Kursbeginn an der Tür.“ Deswegen gibt es jeden Tag 30 Minuten Entspannung mit Fantasiereisen, progressivem Muskeltraining und Massagen. Dass man auf Scharfenberg nicht zur Ruhe kommt, heißt schon viel. Sobald man die Insel betritt, scheint der Puls sofort zu sinken. Doch die Jugendlichen kommen in den Ferien dorthin, um das zu tun, was für sie im Schulalltag kaum möglich ist: frei lernen.
Jeder ist Lehrer und jeder ist Schüler
Nebenan in einem kleinen Labor sitzen zehn Schüler um einen Tisch. Darauf steht ein buntes Rasterkraftmikroskop. Es ist aus Lego, mit orangefarbenen Türmchen und einem Laser, der von einem kleinen Spiegel reflektiert wird. Er misst die Oberfläche von Legosteinen, die dann Kästchen für Kästchen auf einem Laptop angezeigt werden. Es funktioniert – bis plötzlich nur noch schwarze Kästchen zu sehen sind. Sofort suchen die Schüler nach dem Problem, der Lehrer mischt sich nicht ein. Ein Schüler beginnt das Problem zu erklären: „Der Laser fällt nur auf die Kante des Spiegels.“ Sofort baut ein Zweiter die Halterung um. „Deswegen kann er die Steine nicht messen, und der Computer zeigt nichts an.“ Der Lehrer, Klaus-Dieter Berneking, freut sich über die motivierten Schüler. Er arbeitet eigentlich in der Senatsbildungsverwaltung und nimmt sich für die neuntägige Akademie frei. „In meinem Beruf habe ich keine Gelegenheit, mich mit diesen Interessen zu beschäftigen und meine Begeisterung daran zu teilen. Und allein zu Hause macht das Experimentieren nicht annähernd so viel Spaß wie mit den Schülern.“
Was in Schulen nicht möglich ist
Auf dem Lehrertisch stehen Petrischalen mit rötlichen Kupferplatten, die an Kabeln hängen. Es ist ein Langzeitexperiment. Daneben eine Plastikdose mit grauem Pulver. „Wenn man das auf eine Oberfläche reibt, dann wird das Pulver farbig, weil es das Licht bricht und reflektiert“, erklärt der zwölfjährige Julian. Während er erzählt, verreibt er das Pulver auf dem schwarzen Karton und es beginnt, blau-lila zu schimmern. „Viele Projekte sind in Schulen nicht möglich, weil die Zeit oder das Geld fehlt“, erzählt Marius Beutel, Lehrer für Chemie und Physik. „Hier kann man auch mal zehn Minuten abschweifen und andere Dinge nebenbei lernen, wie zum Beispiel etwas über Plasma.“ Er zeigt auf den Lehrertisch, da steht eine Plasmalampe, die auf Berührungen reagiert.
Henri könnte den ganzen Tag lernen, sagt er, aber jetzt geht er erst einmal zum „KüA“, dem Kursübergreifenden Angebot. Er hat Sport gewählt. Und wenn er auf einem kniehohen, blauen Ball mit goldenen Sternen seilspringt, dann wirkt die Akademie tatsächlich etwas unwirklich. Emilia fährt Einrad und jongliert dabei mit roten Ringen. „Hier ist nicht jeder gegen jeden, wie in der Schule“, sagte Henri. Kurz danach klettern ein paar Schüler aufeinander und formieren sich zu einer Pyramide. Henri ist ganz oben.
Was passiert, wenn dieser Traum wieder zu Ende geht? Wer die Insel verlässt, muss auf die Fähre warten. Man setzt sich auf die Bank am Ufer und überblickt den See. Die Blätter rauschen, leise schwappen die Wellen ans Ufer. Vielleicht können einige Schüler ihre Projekte für Schulprüfungen nutzen. Vielleicht wird Henri Atomphysiker oder Akrobat. Sie alle haben etwas Wichtiges gelernt: Sie sind mit ihrer Wissbegierde nicht allein. Und wenn sie wieder in ihren Klassenzimmern sitzen, können sie von Scharfenberg träumen. Vielleicht bis zum nächsten Jahr.