Da steht er, der mächtige Greifarm. Orange-rot, mit Hydraulik-Schläuchen und vereinzelten Kabeln. Das Surren muss man sich auf dem Breitscheidplatz dazudenken, aber die sanften, unmenschlich präzisen und abgehackt schnellen Bewegungen des Industrieroboters kann man sehen. Müsste man den IRB 4600 Industrial Robot mit einer Szenerie verknüpfen, man würde ihn am Ehesten noch Autoteile zusammensetzen lassen. Doch am Donnerstag um 11 Uhr produzieren die akkuraten Bewegungen des Industrieroboters mit dem gleichsam technokratischen wie stilvollen Namen etwas ganz anderes.
26. September, 11 Uhr, MuseumsQuartier in Wien, Österreich: der Maler Alex Kiessling hebt seinen Stift an, um ein Kunstwerk zu zeichnen. Anstelle eine Radierers hat das hintere Stiftende einen roten Tennisball. Kiessling malt ein Gesicht – überlebensgroß auf Leinwand. Später am Nachmittag kommen weitere Bilder hinzu. Doch was genau er malt, spielt auch weniger eine Rolle, denn wichtig ist nur, dass zeitgleich am Breitscheidplatz in Berlin der Roboter seinen Greifarm erhebt. Sein Zwillingsbruder in London ebenfalls – am Trafalgar Square steht ein zweiter IRB 4600 Industrieroboter, der um 10 Uhr (wegen der Zeitverschiebung) den Stift ansetzt.
Beide werden per Live-Schaltung über jeden Pinselstrich von Kiessling informiert und setzen ihn um – hierzu dient der rote Tennisball. Während der schwarze Bilderrahmen der Leinwand nämlich eine Infrarot-Schnittstelle ist, von der aus die Roboter die Koordinaten für ihren nächsten Zug ablesen, wird mit dem roten Stiftende zur Sicherheit noch eine zweite technische Live-Übertragung angewandt; das Motion-Capturing, wie man es aus Special-Effects-lastigen Filmen kennt. Gleichzeitig können Zuschauer von jedem Standort aus über Leinwände sehen, was die anderen beiden Protagonisten in diesem Augenblick produzieren. Die Simultan-Zeichen-Performance erzeugt drei synchron entstandene Bilder in den drei Haupstädten.
Ein Mensch, drei Künstler?
Die beiden Roboter werden die digitalen Daten auswerten und in ihre hydraulischen Bewegungen umsetzen. Dabei werden sie nicht den absolut gleichen Druck auf den Stift, nicht die gleichen Schwingbewegungen durchführen (können). Selbst das Blitzlichtgewitter der Fotografen in Wien hat Auswirkungen auf den Infrarotrahmen. Was entstehen wird – gleichsam in Berlin wie in London – wird sich im Detail, aber doch signifikant, als Unikat herausstellen. Noch ist sich IRB 4600 dieses Kunstwerks nicht bewusst. Aber vielleicht will er sich bald von seinem Schöpfer emanzipieren.
„Long Distance Art“, am 26. September. Breitscheidplatz, 11:00 Uhr. Wer nicht zum Breitscheidplatz kommen kann oder möchte, ist in der Lage, dem Roboter per Livestream im Netz über die Schulter zu schauen.
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