Roboterzwillinge malen synchron ein Wiener Bild

IRB 4600 und sein Malstift

Fünf vor 11: Künstler Alex Kiessling wärmt sich auf. Mittig wartet IRB 4600_1 stoisch am Breitscheidplatz auf Input. Und rechts am Trafalgar Square in London scheint die Herbstsonne.
Fünf vor 11: Künstler Alex Kiessling wärmt sich auf. Mittig wartet IRB 4600_1 stoisch am Breitscheidplatz auf Input. Und rechts am Trafalgar Square in London scheint die Herbstsonne. Zur Foto-Galerie
Breitscheidplatz - Am Donnerstag überträgt ein Industrieroboter in Berlin per Liveschaltung die Armbewegungen eines Künstlers in Wien auf seine Leinwand. Er malt ein Bild ab, das zeitgleich in der österreichischen Hauptstadt entsteht. Ebenso: Sein baugleiches Gegenstück in London.

Da steht er, der mächtige Greifarm. Orange-rot, mit Hydraulik-Schläuchen und vereinzelten Kabeln. Das Surren muss man sich auf dem Breitscheidplatz dazudenken, aber die sanften, unmenschlich präzisen und abgehackt schnellen Bewegungen des Industrieroboters kann man sehen. Müsste man den IRB 4600 Industrial Robot mit einer Szenerie verknüpfen, man würde ihn am Ehesten noch Autoteile zusammensetzen lassen. Doch am Donnerstag um 11 Uhr produzieren die akkuraten Bewegungen des Industrieroboters mit dem gleichsam technokratischen wie stilvollen Namen etwas ganz anderes.

26. September, 11 Uhr, MuseumsQuartier in Wien, Österreich: der Maler Alex Kiessling hebt seinen Stift an, um ein Kunstwerk zu zeichnen. Anstelle eine Radierers hat das hintere Stiftende einen roten Tennisball. Kiessling malt ein Gesicht – überlebensgroß auf Leinwand. Später am Nachmittag kommen weitere Bilder hinzu. Doch was genau er malt, spielt auch weniger eine Rolle, denn wichtig ist nur, dass zeitgleich am Breitscheidplatz in Berlin der Roboter seinen Greifarm erhebt. Sein Zwillingsbruder in London ebenfalls – am Trafalgar Square steht ein zweiter IRB 4600 Industrieroboter, der um 10 Uhr (wegen der Zeitverschiebung) den Stift ansetzt.

Beide werden per Live-Schaltung über jeden Pinselstrich von Kiessling informiert und setzen ihn um – hierzu dient der rote Tennisball. Während der schwarze Bilderrahmen der Leinwand nämlich eine Infrarot-Schnittstelle ist, von der aus die Roboter die Koordinaten für ihren nächsten Zug ablesen, wird mit dem roten Stiftende zur Sicherheit noch eine zweite technische Live-Übertragung angewandt; das Motion-Capturing, wie man es aus Special-Effects-lastigen Filmen kennt. Gleichzeitig können Zuschauer von jedem Standort aus über Leinwände sehen, was die anderen beiden Protagonisten in diesem Augenblick produzieren. Die Simultan-Zeichen-Performance erzeugt drei synchron entstandene Bilder in den drei Haupstädten.

Ein Mensch, drei Künstler?

Und mit einem leichten Schauder von Science-Fiction fragt man sich: Wer ist nun der eigentliche Künstler? Alex Kiessling musste zunächst nach den Bildrechten fragen – nach einiger Unsicherheit ist zumindest klar: die Bildrechte gehören ihm, nicht der Firma ABB, die die Industrieroboter entwickelt hat. Der Wiener bringt von 11 Uhr bis abends um sechs einige Werke auf die Leinwand. Erstens sind seine Arbeiten bereits vorgezeichnet – die hauchdünnen Linien erkennt man auch über die Live-Schaltung. Geschuldet ist das dem enormen Zeitaufwand, die eine völlig aus dem Nichts auf die Leinwand gebrachte Zeichnung verschlingen würde. Und zweitens muss sein Kunstwerk technische Anforderungen erfüllen, die eine digitale und elektro-motorische Übersetzung zulassen. So arbeitet Kiessling mit eben diesem rot beballten Stift, außerdem darf er die Hand nicht – wie üblich – auf die Leinwand auflegen, da das die Infrarotsensoren irritieren würde.

Die beiden Roboter werden die digitalen Daten auswerten und in ihre hydraulischen Bewegungen umsetzen. Dabei werden sie nicht den absolut gleichen Druck auf den Stift, nicht die gleichen Schwingbewegungen durchführen (können). Selbst das Blitzlichtgewitter der Fotografen in Wien hat Auswirkungen auf den Infrarotrahmen. Was entstehen wird – gleichsam in Berlin wie in London – wird sich im Detail, aber doch signifikant, als Unikat herausstellen. Noch ist sich IRB 4600 dieses Kunstwerks nicht bewusst. Aber vielleicht will er sich bald von seinem Schöpfer emanzipieren.

„Long Distance Art“, am 26. September. Breitscheidplatz, 11:00 Uhr. Wer nicht zum Breitscheidplatz kommen kann oder möchte, ist in der Lage, dem Roboter per Livestream im Netz über die Schulter zu schauen.


Das könnte Sie auch interessieren:

Foto Galerie

IRB 4600 und sein Malstift, Kurfürstendamm 237, 10719 Berlin

Weitere Artikel zum Thema

Kultur + Events
Die Geister, die Google rief
Ab und zu tauchen lebensgroße Pappfiguren in Berlin auf. Ihre Gesichter sind schemenhaft verzerrt, ihre […]
Ausstellungen
Die Muse zeigt sich in Kreuzberg
Wassertorkiez – Das Kunstfestival "Kissed by A.muse" widmet sich in dieser Woche der jungen, aufstrebenden […]
Shopping + Mode | Ausstellungen
Vom Vintage verweht
Am Spittelmarkt - In der Wallstraße zwischen den U-Bahnstationen Märkisches Museum und Spittelmarkt liegt ein […]
Kultur + Events
Utopisches Ödland
Springpfuhl - Im April hat die Sanierung der Alten Börse begonnen, schon jetzt werkeln Künstler […]
Ausstellungen | Kultur + Events
Must-See-Ausstellungen im März
In Berlin gibt es viel zu sehen und daher auch viel zu verpassen. Wir haben […]