Ein Kiezspaziergang durch Hennigsdorf bei Berlin

Fischer, Chor und Bombardier

Die Havelbrücke wurde wegen des Mauerbaus gesprengt und nach der Wende 1998 erst wieder aufgebaut.
Die Havelbrücke wurde wegen des Mauerbaus gesprengt und nach der Wende 1998 erst wieder aufgebaut.
Hennigsdorf bei Berlin - Man sollte öfter S-Bahnfahren: Die Strecke von Alt-Tegel nach Hennigsdorf führt vorbei an grünen Landschaften, Feldern und Gartenhäuschen. Von Heiligensee geht es über die Havelbrücke. Aus dem Fenster sind Ausflugsschiffe und Segelboote zu sehen, die malerisch am Hafen stehen. Füher wäre eine solche Fahrt unmöglich gewesen, hier befand sich der Todesstreifen, Heiligensee und Hennigsdorf waren voneinander abgetrennt. Erst im Dezember 1998 wurde die Havelbrücke wieder aufgebaut, seitdem rollt die S-Bahn wieder von Berlin nach Hennigsdorf.

Das Örtchen ist ein ehemaliges Fischerdorf, heute bestimmt vor allem die Stahlproduktion den Ort. Anfang des 20. Jahrhunderts verlegte AEG seinen Lokomotiven-Bau von der Brunnenstraße in Berlin-Wedding an die Havel. Um die zwei großen AEG-Werke bildeten sich zwei Siedlungen, was dazu führte, dass sich kein echter Stadtkern in Hennigsdorf herausgebildet hat.

Nach der Wende versuchte die Verwaltung zwar durch den Bau einer Einkaufspassage gleich gegenüber vom Bahnhof so etwas wie ein Stadtzentrum zu bauen, aber das sei nie wirklich gelungen, wie eine Anwohnerin erklärt. Bis heute ist die Architektur der Stadt von den Betrieben AEG, heute Bombardier, und vom Stahlwerk Riva geprägt. Auch vor der Wende blieben die Öfen nicht still, die Menschen arbeiteten weiter für die Werke, damals als Lokomotivbau Elektrotechnische Werke (LEW) bzw. VEB Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf bekannt.

Im Clubhaus des LEW gründete Leo Wistuba vor mehr als 50 Jahren den Kammerchor von Hennigsdorf – zunächst mit nur vier Mitgliedern – aber mit großer staatlicher Unterstützung. Er war Hochschullehrer für Gesang und Stimmbildung an der Humboldt-Universität. Unter seiner Leitung nahm der „Leo Wistuba“ Chor bereits nach zehn Jahren Volkslieder für den Rundfunk auf. Der Gesangsverein nahm an internationalen Wettbewerben in der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und später auch in Italien und Österreich teil.

Heute Abend probt das Ensemble im Bürgerhaus „Alte Feuerwache“. Am 5. Oktober ist unter dem Motto „Gelbe Birnen und wilde Rosen“ ein großer Auftritt in Schildow. Die Chormoderatorin Sybille Kutschke-Stange treffe ich im Hof der Feuerwache, ich bin nur zufällig hier, trotzdem lädt sie mich spontan ein, bei den Proben dabei zu sein. Der Gesangslehrer bittet die Sänger, sich zu erheben und sich im Raum zu bewegen, dabei machen sie verschiedene Stimm- und Lippenübungen. Frauen- und Männerstimmen wechseln sich ab, dann singt der ganze Chor – der Raum vibriert.

In der Pause erklärt Sybille Kutschke-Stange, was eine Chormoderatorin macht: „Ich versuche Musik und Gedichte oder auch moderne Texte zu einer Einheit zu verbinden. Ich spreche die Texte zwischen den Gesangseinheiten.“ Ob ich sie fotografieren darf, frage ich. „Warum?“, entgegnet sie. „Damit der Leser ein Gesicht zu einem Ort hat“, sage ich. Das überzeugt sie. Aber, sie müsse erst ihren Hut holen, die Leute würden sie nur mit Hut kennen, sagt die ehemalige Schulleiterin des hiesigen Gymnasiums.

Sybille Kutschke-Stange erinnert daran, dass es hier wohl mehrere alte Häuser und Gaststätten gab – aber viele sind mit der Zeit zerfallen. Nach der Wende wurde ein neues modernes Rathaus gebaut, das alte dient heute als Standesamt, der Bahnhof wurde neu errichtet und in der Alten Feuerwache befindet sich jetzt das Bürgerhaus. Alte Gebäude von damals sind nur rund um Standesamt und Kirche erhalten. In Nieder Neuendorf aber, – im südlichen Teil Hennigsdorfs – gibt es noch ein altes Jagdhaus, einen alten DDR-Wachturm aber auch eine sehr schöne Badestelle mit Prommenade. Das sehe ich mir wohl das nächst Mal an.

 

„Nach dem Trip nach Hennigsdorf hatte ich das Gefühl, Urlaub gemacht zu haben – mit dem Unterschied, dass ich noch am selben Abend in meiner Küche essen und in meinem Bett schlafen konnte. Das war ein überraschender und netter Ausflug in den hohen Norden. Ich würd’s jeder Zeit wieder tun – vor allem mit der S-Bahn.“

Blumen-Cafe Vergissmeinnicht, Hauptstraße 22, 16761 Hennigsdorf

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