Bericht aus dem Kiez

Kreuzberg kämpft weiter

Protest-Sticker auf Tafel
Ob Demos, Plakate oder Sticker - Protest gegen Verdrängung gehört in Kreuzberg dazu.
Kreuzberg: multikulti, dreckig und hip. Mittlerweile wohl schon etwas zu hip. Der Bezirk, der gleichzeitig verschrien und doch so angesagt ist, wandelt sich. Wer hier lebt, kann es tagein tagaus beobachten: Kreuzberg hat ein Gentrifizierungs-Problem!

Das Leben in Kreuzberg: kiezig, multikulti und charmant dreckig. Hier lebt es sich noch so, wie man es sich in einem richtigen Kiez vorstellt. Noch! Denn wie lange dieses Flair weiterhin aufrechterhalten werden kann, frage ich mich jeden Tag erneut, wenn ich hier durch die Straßen tingle. Alteingesessene Kneipen, Einzelhändler und Spätis schließen oder kämpfen einen erbitterten Kampf gegen steigende Mieten und Investoren – dafür eröffnen neue Restaurantketten, Luxushotels und teure Geschäfte. Wenn ich mir das so ansehe, muss ich leider feststellen: Der charmante Bezirk wandelt sich von Tag zu Tag – und nicht zum Guten.

Das nächste Großprojekt – kommt nicht!

Stell dir vor, du lebst in einem schönen, charaktervollen Kiez, in dem du mit deinem Spätibesitzer und Kneipenwirt per du bist und alles seinen ganz eigenen Gang geht. Und jetzt stell dir vor, in diesem schönen Kiez marschieren bald bis zu 700 Touristen mehr durch die Straßen, um deinen Lebensraum zu begutachten und betrunken auf den Straßen zu wüten. Für mich, und viele andere Kreuzberger, keine schöne Vorstellung. Nichts gegen Touristen, aber irgendwann ist das Maß eben erreicht. Die Angst, dass der ansteigende Tourismus und die neuen, schicken Gewerbe und Filialen bald nichts mehr von dem ursprünglichen Kreuzberger Charme übrig lassen, war mal wieder sehr greifbar.

Genau diese Angst schürte nämlich ein Bauvorhaben, von dem 2018 bekannt wurde. Dabei handelte es sich um ein Hotel-Hostel-Komplex, das auf einer Brache an der Ecke Mariannenstraße, Skalitzer Straße entstehen sollte. Mit rund 100 Zimmern sollte es Platz für mehrere Hundert Touristen bieten. Außerdem waren ein Shoppingbereich und ein Anfahrtsplatz für Busse geplant. Hinter dem Ganzen steckte, wie sich vor Kurzem herausstellte, das Unternehmen Ideal-Versicherung, das erst frisch in das Immobiliengeschäft eingestiegen ist.

Baustelle in Kreuzberg

Hier soll bald ein Hotel-Hostel-Komplex entstehen.

Kreuzberg is not amused

Das Bekanntwerden dieses Projekts hat in Kreuzberg jedoch für große Unruhen und aufgeheizte Stimmung gesorgt: noch mehr Reisegruppen, die mit Regenschirmen durch die Gegend geführt werden, Partytouristen aus aller Welt, Konkurrenz für ansässige Gewerbe – dafür weniger echtes Leben. Die Einwohner Kreuzbergs waren alles andere als begeistert. Deshalb fanden schon bald nach dem Bekanntwerden des Vorhabens Protestzüge und Kundgebungen der neu gegründeten Anwohner-Initiative NoHostel36 statt. Davon versprach man sich Erfolge, wie sie bereits zuvor, beim Google Campus, der im Umspannwerk in der Ohlauer Straße hätte errichtet werden sollen, erzielt wurden.

Die letzte Kundgebung fand am 9. Februar 2019 statt. Es nahmen deutlich mehr Menschen teil als die Veranstalter erwartet hatten und auch die Presse war vor Ort. Außerdem wurden im ganzen Kiez Plakate gegen das Vorhaben aufgehängt und Flyer ausgelegt. Auch Baustadtrat Florian Schmidt (Die Grünen) warnte auf Twitter vor dem Vorhaben und den damit einhergehenden Bedrohungen für Anwohner und die Nachbarschaft.

Kundgebung gegen das Bauvorhaben

Kundgebung am 09. Februar 2019

Protest mit Erfolg

Die große Wendung ereignete sich kurz nach der letzten Kundgebung, am 17. Februar 2019. Höchst unerwartet veröffentlichte der Bezirk Friedichshain-Kreuzberg gemeinsam mit der Ideal-Versicherung eine Pressemitteilung, in der sich die Verantwortlichen dafür aussprachen doch kein Hotel-Hostel-Komplex auf der Brache zu errichten. Stattdessen soll nun ein Alternativplan durchgeführt werden: ein Büro- und Gewerbebau, welcher ortstypische und gemeinnützige Örtlichkeiten berücksichtigt und kleinere Ladeneinheiten begünstigt. Die Flächen in dem geplanten Bau sollen primär bereits im Bezirk ansässigen Gewerben sowie Unternehmen mit sozialem und gemeinnützigem Hintergrund angeboten werden. Auf Twitter verkündet Florian Schmidt, dass konkretere Auskünfte bald folgen werden.

Viele Kreuzberger sind nach dieser Nachricht sicher wieder etwas beruhigter. Trotzdem bleibt die Initiative NoHostel36 skeptisch, denn wie genau der Alternativplan umgesetzt werden soll, ob nun tatsächlich alle Anwohner berücksichtigt werden, ob das Vorhaben dem Allgemeinwohl dient und was die wahren Ziele der Ideal-Versicherung sind, bleibt fraglich. Der Frage, warum das Gelände nicht für dringend benötigten Wohnraum genutzt wird, entgegnet die Ideal-Versicherung in einem Statement auf Facebook, dass dies aus aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen schlichtweg nicht möglich sei und somit von vornherein nicht zur Option stand.

Trotz der unerwarteten Wende heißt es im Kiez also nach wie vor Augen und Ohren offen halten. NoHostel36 warnt auf ihrer Website: „Auch dieser Drops scheint noch lange nicht gelutscht zu sein“, und verspricht am Ball zu bleiben. Es bleibt also spannend und zu hoffen, dass sich das Vorhaben tatsächlich zum Positiven für den Kiez und die Anwohner entwickelt.

Kreuzberg und der Kampf gegen die Mieten

Doch nicht nur die Großprojekte machen in Kreuzberg Sorgen, auch die steigenden Mieten und Immobilienkäufe von Investoren im Allgemeinen. Ganze Häuserzeilen werden von großen Immobilienfirmen aufgekauft – Mietern und Gewerbetreibenden wird gekündigt. Die Folge: Einjahresverträge, mehr Tourismus, höhere Mieten, mehr Verdrängung – dafür weniger Platz für bezahlbaren Wohnraum und soziale Stätten. Von Familie über Späti- bis hin zum Restaurantbesitzer: Im Kiez müssen viele um ihre vier Wände und somit auch ihre Existenz fürchten. So beispielsweise auch der Späti in der Oranienstraße 35, der mit großem Widerstand seit über vier Jahren gegen seine Schließung kämpft. Dabei wird der Familienbetrieb von der Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez unterstützt. Wie und ob es weitergehen kann mit ihrem kleinen Laden, wissen die Inhaber selbst noch nicht. Sie erklären: „2.600 Euro mehr Miete wollen die. Es kann sein, dass wir uns mit den Vermietern anders einigen können. Es kann aber auch sein, dass sie sagen, sie wollen das Geld und wir raus müssen“.

Plakatierter Späti in der Oranienstraße

Auch dieser Spätkauf in der Oranienstraße kämpft gegen Verdrängung.

Den Betroffenen und Kreuzbergern passt das gar nicht. Demos und Proteste stehen im Bezirk quasi auf der Tagesordnung und Plakatierungen und Kundgebungen gehören zum feinen Ton. Und auch andere Protestaktionen gehören im rebellischen Kreuzberg zum Programm. Letzten Sommer beispielsweise taten sich eine Vielzahl an Gewerbetreibenden in der Oranienstraße zusammen und verdunkelten einen Tag lang ihre Schaufenster mit Kartons, um auf die fortschreitende Verdrängung aufmerksam zu machen.

Gentrifizierung – aber wer steckt dahinter?

Ein großes Problem in Sachen Gentrifizierung ist die Undurchsichtigkeit, wenn es um Vermieter und Investoren geht. Wie bei dem Hotel-Komplex ist auch in vielen anderen Fällen nicht transparent, welche Investoren und Firmen tatsächlich hinter den Projekten stehen. Erst vor Kurzem hat die Kulturkneipe Das Syndikat aus Neukölln, deren Mietvertrag zu Jahresende gekündigt wurde, jedoch Spannendes herausgefunden. Da sich die Betroffenen nicht wehrlos ergeben wollten, forschten sie nach und konnten schließlich ihren wahren Vermieter ausfindig machen. Bei diesem handelt es sich letzten Endes um eine große Immobilienfirma, die Pears Group, aus Großbritannien, die noch viele andere Wohnhäuser in der ganzen Stadt besitzt und es wohl auf maximale Rendite abgesehen hat.

Kreuzberg wandelt sich weiter und Kreuzberg kämpft weiter

Dass auch hinter vielen anderen Projekten und Immobilien in Kreuzberg und ganz Berlin am Ende des Tages Großinvestoren und Unternehmen stehen, dürften klar sein. Gegen sie anzukämpfen ist und bleibt jedoch aufgrund der mangelnden Transparenz schwierig.

Wie der Wandel in Kreuzberg weitergeht und was in dem angesagten Stadttteil noch so auf uns zukommt, wird sich zeigen. Fest steht aber: hier wird man sich nicht so schnell geschlagen geben – sei es in Anbetracht neuer Großprojekte oder der grundlegend steigenden Mieten: Wir werden uns weiter auf Demos, Kundgebungen und Protest-Plakatierungen an Häuserfassaden einstellen können.

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