Treffpunkt Admiralbrücke: Die warme Mittagssonne zieht die Menschen nach draußen, wo sie ihren Hunger auf das erste Eis des Jahres stillen. Unter ihnen ist Günther Krabbenhöft. Mit Hut, Schleife, Einstecktuch und Gehstock – seinem wichtigsten Accessoire – ist er nicht zu übersehen. Aus seiner Weste baumeln blaue Kopfhörer: „Musik ist meine Mauer, mein Schutz, aber auch der Taktgeber meines Wanderns und Gehens durch die Stadt“, erzählt Günther. Gerade läuft seine „Unterwegs-Playlist“ auf seinem Smartphone. Da sei viel Jazz, beispielsweise von Nina Simone, dabei.
Günther wurde ungewollt über Nacht zu einem viralen Hit. Ein Foto an den U-Bahn-Gleisen des Kottbusser Tors, geschossen von einem Blogger, machte ihn auf der ganzen Welt bekannt. Kurze Zeit später stürzten sich internationale Medien auf den stets gut gekleideten Herren und feierten ihn als 104-jährigen Techno-Fan: „Ich würde mich freuen, wenn ich mit über 100 noch so gut drauf bin“, sagt er und lacht. Denn Günther ist gerade mal 73 Jahre alt. In Kreuzberg lebt er seit mehr als 30 Jahren und hat viel von den Veränderungen, die das Quartier erlebt hat, mitbekommen. „Die Admiralbrücke ist plötzlich zu so einem Hotspot geworden, der in jedem Reiseführer steht.“ Früher sei es hier ruhig und idyllisch gewesen, erinnert sich Günther. „Jetzt ist das ein Partyplatz, den die Touristen dreckig und vermüllt hinterlassen, als hätten sie nichts mit dem Ort zu tun. Da frag‘ ich mich, ob bei denen zuhause die Mutti vielleicht auch noch hinterherräumt?“
Veränderungen im Kiez können nicht aufgehalten werden
Das Schöne an Kreuzberg sei ja, dass es immer noch so vielfältig ist, erzählt Günther. „Kreuzberg wird nie ein schickes Kleid anhaben und nie glattgebügelt sein.“ Auch wenn er die Oranienstraße entlanggeht und alle Welt draußen die lauschigen Sommerabende genießt, dann fühlt sich das für Günther wie das wirkliche Leben an: „Ich stelle mir dann vor, dass ich das noch lange habe. Auch wenn ich älter werde und eine Pflegerin mich in einem Café absetzen muss, weil ich nicht mehr alleine laufen kann, will ich daran teilhaben.“ Deshalb kann Günther auch nicht verstehen, wenn man sich darüber beschwert, dass neue Menschen herziehen. „Wir sind doch alle Teil der Karawane. Ich denke dann immer: Leute, bleibt mal locker, natürlich sind nicht alle Veränderungen toll. Aber es ist so: Den Lauf der Welt kann man nicht aufhalten“, sagt er, während wir am Landwehrkanal entlanglaufen.
Am Uferweg sitzen Menschen in der Mittagssonne. Beinebaumelnd werfen sie den vorbeischwimmenden Schwänen Brotkrumen ins Wasser. An Tagen wie heute kommt Günther gerne hierher. Aber am Wochenende? Niemals! „Ich möchte hier mit meinen Freunden chillen, aber nicht mit tausend anderen Leuten, die am Wochenende hierher strömen. Da verkrieche ich mich lieber auf meiner Terrasse.“ Aber auch bei ihm Zuhause ist es nicht wirklich ruhig. In den 80ern zog der gebürtiger Hannoveraner nach Kreuzberg: Damals fing der Berliner Senat an, besetzte Häuser in Sanierungs-Selbsthilfe-Projekte umzuwandeln. Seitdem wohnt er hier in einer Hausgemeinschaft – mit noch immer denselben Menschen von früher. Insgesamt elf Wohnungen mit Gemeinschaftsräumen und -terrassen teilen sie sich: „Wir helfen und unterstützen uns gegenseitig und ich hoffe, dass ich noch lange dort wohnen kann.“
Dabei hatte Günther nie vor in Berlin zu bleiben. Mit 24 Jahren kam der gelernte Koch in die Hauptstadt, wartete hier auf eine Stelle als Schiffskoch auf der Hanseatic, die damals von Hamburg nach New York gefahren ist. Außerdem drohte ihm die Einberufung für den Wehrdienst: „In Berlin konnte man ja verschwinden und den Wehdienst umgehen“, erzählt er, während wir zum Luisenstädtischen Kanal schlendern. Anders als der Name vermuten lässt, fließt hier zwar heute kein Wasser mehr hindurch – der Wasserweg wurde 1926 zugeschüttet – dennoch eignet sich der Kanal zwischen Mitte und Kreuzberg hervorragend für einen Spaziergang vom Urbanhafen bis zum Engelsbecken. Früher ist Günther hier oft in dem Alt-Berliner Wirtshaus Die Henne eingekehrt, von wo aus man auf die Berliner Mauer sehen konnte.
Zehn Stunden Berghain
Wer regelmäßig in Berlins-Partyszene unterwegs ist, dem dürfte Günther bereits begegnet sein. Denn der Hype um die Person Günther Krabbenhöft schlug nicht nur in der Modewelt Wellen, Günther wurde auch dank seiner Liebe zu Techno bekannt. Ob Heideglühen, Prince Charles, Kater Blau, Rummelsburger Bucht oder Sisyphos – der 73-Jährige geht fast jedes Wochenende in den Clubs der Stadt tanzen. „Das klingt jetzt vielleicht so, als ob ich nicht alle Latten am Zaun hätte, aber die Emotionen, die mich beim Tanzen durchströmen, sind was ganz Besonderes.“ So kann es durchaus vorkommen, dass Günther zehn Stunden am Stück auf der Tanzfläche unterwegs ist. Das ist natürlich auch Fitness: Früher war er noch regelmäßig auf dem Laufband, das braucht er heute nicht mehr.
Was für die meisten Jugendlichen fester Bestandteil des Wochenendes ist, fand erst vor ein paar Jahren Einzug in Günthers Leben: „Vor drei Jahren sprachen mich zwei Mädchen in der U-Bahn an und fragten, ob ich nicht mit ins Berghain kommen wolle.“ In Sekundenschnelle habe er daraufhin einfach „Ja!“ gesagt. Denn Gefallen am Tanzen hat er schon immer gefunden. Nur diese Schranke im Kopf hatte ihn bisher davon abgehalten. Er habe immer befürchtet, dass die jungen Leute sagen: „Was will der denn hier? Der bekommt doch gleich einen Herzkasper, dann ist die Party aber zu Ende!“
Ist er denn schon mal von einem Türsteher abgewiesen worden? „Nein, warum auch? Ich bin ja ein anständiger Herr. Anfangs wurde ich vor dem Club noch gefragt, ob ich denn wirklich wisse, wo ich sei“, erzählt Günther – mittlerweile sind wir im Café Engelbecken angekommen, in dem Günther gerne seine Nachmittage verbringt und bestellen uns eine kühle Apfelschorle. Auch Alkohol oder andere Substanzen nimmt Günther nicht zu sich. Vielmehr ist er sich sicher, dass die Türsteher spüren, wer wirklich tanzen will. „Ich glaube, die müssen das Funkeln in den Augen sehen.“
„Bei schönem Wetter gehe ich am liebsten draußen raven“
Günther wiederum bekommt Funkeln in den Augen, als wir beginnen über seinen Kleidungsstil zu sprechen. „Ich bin kein Hipster, aber es ist nun mal so, dass Kleider Leute machen! Wer einen Anzug trägt, der hat eine ganz andere Körperhaltung und strahlt auch etwas ganz anderes aus“, weiß er als Stilikone. Er hat schon immer viel Wert auf sein Äußeres gelegt: „Ich wollte nie in der Masse untergehen.“ Als er nach Kreuzberg kam, habe er nur schwarz getragen. „Damals habe ich mir in einem Second-Hand-Laden Wanderstiefel und eine Lenin-Schiebermütze gekauft“, sagt er. Heute trägt er Teile der klassischen Herrenmode, immer raffiniert kombiniert mit modernen Stücken.
Auf unserem Rückweg wollen wir natürlich noch von Günther wissen, in welchen Club es ihn dieses Wochenende verschlagen wird. Eigentlich findet er nämlich alle Techno-Clubs, die hier in der Nähe sind toll: „Aber bei schönem Wetter gehe ich am liebsten draußen raven„, verrät er. Außerdem fahre er im Juni wieder auf ein kleines Festival nach Graz. Auf fünf Tage lang Durchtanzen freut er sich schon wie ein kleines Kind.