Oguz Yagci ist nicht in Eile an diesem schwülen Vormittag. Seine einzige Aufgabe besteht in einem Spaziergang in die nahe gelegene Dresdener Straße 128 in Kreuzberg. Dort erwartet ihn ein Damenfahrrad, Marke: Ragazzi. Farbe: dunkelgrün. Besondere Kennzeichen: 26-Zoll-Rahmen und ein Korb voller Müll. Der 46-Jährige stammt gebürtig aus Ankara, trägt Jeans, ein blaues Hemd und graue Chucks. Mit seinen langen dunklen Haaren und dem Fünftagebart erinnert er mehr an einen Soziologiestudenten als an einen Fahrradmechaniker. Doch Oguz Yagci ist Leiter der Werkstatt des „Agens e.V.“, sie stellen Fahrräder wieder her.
Yagci macht sich zusammen mit Patti auf den Weg. Patti, 43, heißt in Wirklichkeit Jürgen Padberg, aber so nennen ihn nur seine Eltern, sagt er. Er ist ziemlich dünn, seine Augen mit Kajal umrandet, darüber trägt er eine schwarze Hornbrille. In den Bollerwagen wirft er einen Rucksack mit Werkzeug: Bolzenschneider, Trennscheibe, eine Metallstange und eine Zange – alles, was nötig ist, um ein Schrottfahrrad loszukriegen. Manchmal sprechen ihn misstrauische Passanten an. Und auch die Polizei beobachtete ihn zunächst skeptisch. Inzwischen kennen sie ihn. „Wir sind offizielle Fahrraddiebe“, sagt er. Sie kooperieren mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.
Überall in Berlin stößt man auf zahllose Schrottleichen, die unbeachtet an Laternenmasten oder Bäumen verrosten und auseinanderfallen. Oft fehlen die Räder, sind die Bremsen kaputt und die Sattel gestohlen. Die Gefährte blockieren Fahrradständer oder Gehwege. Jedes Jahr erleiden tausende Räder dieses Schicksal, die meisten in Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Neukölln. Dort, wo es auch die meisten Radfahrer gibt.
Neues Leben für tote Fahrräder
Die Mitarbeiter von Agens e.V. sind so etwas wie Pathologen. Sie nehmen sich der Metallskelette auf dem Friedhof der Fahrradleichen an. Und manchmal sorgen sie auch dafür, dass diese wieder zum Leben erwachen. Die Ordnungsämter kümmern sich dagegen um die Bestattung. Stoßen sie auf ein verlassenes Rad, prüfen sie, ob es als gestohlen gemeldet wurde. Falls nicht, kommt ein gelber Aufkleber drauf. Zwei Wochen bleiben dem Besitzer dann, um sein Rad abzuholen. Geschieht das nicht, gilt das als Verzicht auf sein Eigentum. Das Rad wird dann entweder ins Fundbüro oder zur Schrottpresse gebracht – oder die Männer von Agens bekommen einen Hinweis vom Amt und nehmen sich des Fundstücks an.
Bis zu zwanzig Fahrradleichen reparieren sie monatlich, berichtet Yagci. Sie seien dabei gründlich, eine gewöhnliche Werkstatt könne sich das gar nicht leisten. Die meisten der Mitarbeiter sind Ein-Euro-Jobber und seit Jahren arbeitslos. Die Räder gehen umsonst an Hartz-Empfänger und andere Bedürftige, die sich kein Rad leisten können.
Das Damenrad lehnt fahruntüchtig an einem Fahrradständer in der Dresdener Straße. Mit der Trennscheibe zersägt Patti das Bügelschloss in wenigen Sekunden. Dann beseitigt er den Müll aus dem Korb und hebt das Rad zusammen mit Yagci in den Wagen. Die beiden machen sich auf den Rückweg zum Görlitzer Park und dann in den Hinterhof der Wiener Straße 10, in dem sich ihre Werkstatt befindet. Draußen vor dem Tor stehen rauchende Männer mit dicken Bäuchen und langen Bärten.
Fast alle sind Ein-Euro-Jobber
Sechs Stunden täglich sind die beiden hier beschäftigt, von 8 bis 14 Uhr. Dafür gibt es 1,50 Euro die Stunde, 180 Euro im Monat. Das Jobcenter hat sie hergeschickt. Fast alle sind Langzeitarbeitslose, so wie Patti, zwischen 40 und 50, schwer vermittelbar. Der Job soll sie wieder dem ersten Arbeitsmarkt näherbringen. Doch ihre Chancen sind außerordentlich gering, dessen sind sie sich bewusst. Jeder von ihnen hat eine eigene Geschichte des Scheiterns hinter sich, häufig verbunden mit einem Kampf gegen die Sucht, mit Schulden, Depressionen und körperlichen Leiden.
Oguz Yagci schlüpft daher auch häufig in die Rolle des Pädagogen und Sozialarbeiters. Seinen 45 Mitarbeitern bringt er nicht nur das Reifenflicken bei, sondern hilft auch bei Bewerbungen, schlägt ihnen einen Zahnarzt vor, oder, wenn er selber ratlos ist, einen Therapeuten.
An den Wänden der Werkstatt im dritten Stock hängen Speichen, Felgen, Schläuche und jede Menge Werkzeug. Patti schickt zunächst ein Fax mit der Rahmennummer an die Polizei und versucht dann, die Felge zu zentrieren und den Achter zu richten. Mit dem Rahmen könne man noch etwas anfangen, meint Yagci. Meldet sich der Eigentümer nicht binnen einer Woche, werden sie das grüne Damenrad wohl wieder auf Vordermann bringen.
Die Initiative (mehr unter werkstatt-kreuz@agens-berlin.de) nimmt am 15. September am Aktionstag für eine saubere Stadt teil. Von 10 bis 14 Uhr werden Schrotträder eingesammelt. Treffpunkt für freiwillige Helfer ist in der Wiener Straße 10.
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