Die Leonhardtstraße in Charlottenburg

Das Dorf in der Großstadt

Entschleunigung: Was der Rest des Landes erst vor wenigen Jahren wiederentdecken musste, scheint in der Charlottenburger Leonhardtstraße schon immer dazuzugehören.

Nahe dem Dollinger gibt es jetzt also ein neues Restaurant, österreichisch, es heißt „Josef“. Vorher war in den Räumen ein Café mit Konditorei. Davor eine kubanische Cocktailbar. Davor noch etwas anderes. Alle paar Jahre ändert sich das. Abgesehen davon ändert sich hier, auf der geschätzt zweihundert Meter kurzen Straße, fast niemals etwas, nur dieser eine Laden.

Etwa zwanzig Völker sind in der Leonhardtstraße mit Läden oder Restaurants vertreten, schätze ich. Darunter sind der österreichische Imbiss, der schon vor dem Restaurant hier war, der Chinese, der Inder, das britische Feinkostgeschäft, der italienische Buchladen, die französische und die finnische Kindermode, die marokkanischen Möbel, das luxemburgische Bistro. Das spanische Restaurant liegt ja im Grunde schon am Stuttgarter Platz. Dazwischen weniger ausgefallene Orte: ein Supermarkt, ein Zeitungsladen und ein guter Buchladen, ein Kindergarten und ein Weinhändler. Für die Gesundheit das Reformhaus, der Homöopath und die Logopädin.

Die Straße als behagliches Zuhause mit allem, was nötig ist

Eigentlich kann man sein ganzes Leben sehr gut auf diesen paar Metern verbringen. Das wäre ein gemütliches, lauschiges Leben, ohne übertrieben langweilig zu sein. Denn auf dem breiten Bürgersteig spielt sich immer was ab, selten sichtet man sogar Betrunkene. Die Bewohner hier haben ein wenig Geld, ein wenig Kultur, ein wenig Stil, genug von allem, aber nicht genug, dass es demonstrativ und angeberisch würde. Gut möglich, dass hier das wahre Herz Charlottenburgs schlägt, auf der Strecke zwischen Amtsgerichtsplatz und Stuttgarter Platz, Stutti genannt. Auf dieser Seite des Stutti bevölkern die Eltern die Straßencafés und die Kinder den Spielplatz. Alles weniger Schöne, wie Kaufhäuser, findet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Stutti, eine andere Welt.

Einige Medienleute und Literaten wohnen in der Gegend, und wenn jemand ein neues Buch auf den Markt bringt, kommt er in die Buchhandlung der Nachbarn, um es vorzustellen. So mancher Literat hat auch schon so manches über diese Gegend verfasst, das bleibt nicht aus. Ein paar Jahre ist es her, da erzählte die Buchhändlerin mir, dass einer der Literaten, ich weiß nicht mehr, welcher, den Kiez als ein Dorf dargestellt hat, ein Dorf inmitten der Stadt, mit der Leonhardtstraße als Dorfstraße, und mit Grenzen, wenn auch unsichtbar, die die Dorfbewohner nur selten überschreiten. Das Dorf ist unaufgeregt, vertraut, und man kann einander ohne Eile beim Älterwerden zusehen, doch es engt seine Bewohner nicht ein oder langweilt sie oder gibt ihnen gar ein Gefühl der Unterdrückung, wie es bei echten Dörfern passieren sein kann.

Das Leben findet auf dem Bürgersteig statt

Viel davon hat mit den breiten Gehwegen zu tun. Vor Jahrzehnten reihten sich hier Vorgärten aneinander, wie bei den Berliner Bürgerhäusern üblich. Sofern ich richtig informiert bin, wurden die Vorgärten in den siebziger Jahren entfernt, was natürlich nicht jedem gefiel. Glücklicherweise hat man sich dagegen entschieden, an ihrer Stelle riesige Parkbuchten zu schaffen. Stattessen entstanden die gigantischen Bürgersteige, heute der Ort für die Stühle der Restaurants, Cafés und Bistros, der Ort der spielenden und Rad fahrenden Kinder. Hier repariert im Sommer der amerikanische Fahrradmann die Räder, vor den Geschäften sitzen die Inhaber in der Sonne, und regelmäßig feiern alle gemeinsam ihr äußerst behagliches und schönes Straßenfest.

In den Sommern ließ es sich all die Jahre im Lentz oder im Dollinger wahrlich aushalten, an vielen Herbstabenden zogen die Schützlinge der zahlreichen Kinderläden mit ihren Laternen durch die Straße, zu Silvester bestaunten wir die sagenhaften Feuerwerke des Chinesen, und in den Frühlingen waren das Lentz und das Dollinger immer noch da. Nur ein Laden, besagter vor dem Stuttgarter Platz, floriert niemals. Aber selbst das ist absolut verlässlich.

Vor Veränderung ist auch die Leonhardtstraße nicht sicher

Lange Zeit wohnten wir in dieser Straße, das Kind wuchs heran, dann hat die schwäbische Familie, die das Haus seit Generationen besaß, an eine Immobiliengesellschaft aus Düsseldorf verkauft. Nach und nach werden die Mietwohnungen in kostspielige Eigentumswohnungen verwandelt. Als erste Maßnahme hat man im Hinterhof die uralte Kastanie gefällt. Sie musste weichen für die kommenden Neuerungen: Edelstahlbalkons und ein Aufzug. In den Inseraten wirbt man mit dem Reiz der Leonhardtstraße, zum Teil auf Englisch.

Wir sind fortgezogen, das hatte sicher verschiedene Ursachen. Das Rad dreht sich, alles bewegt sich, man selbst ja auch, man muss ja. Sehr viele Wohnungen, das spricht sich herum, werden von reichen Russen erworben. Bald wird man noch häufiger Russisch hören in der Leonhardtstraße. Ein Masseur aus Russland, dem sein Ruf als Wunderheiler vorauseilt, hat sich schon niedergelassen. Möglich, dass in nicht allzu ferner Zukunft ein russisches Restaurant eröffnet. Einen russischen Lebensmittelladen gibt es schon.


Quelle: Der Tagesspiegel

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