Ein rostiges Tor stellt sich trotzig der Geschichte in den Weg, eingefasst von ein bisschen Gemäuer: Zu sehen gibt es hier schon lange nichts mehr, zumindest nichts, was es zu entdecken lohnen würde. Das war früher anders: Auf der Radrennbahn in Weißensee schrieb Springsteen Rock-Geschichte und Mick Jagger kam auch mit dem ganz großen Besteck vorbei. Heute lassen sich keine Spuren mehr davon finden, was sich auf dem abgerockten Gelände an der Rennbahnstraße abspielte. Statt lauter Gitarrenakkorde fliegen heutzutage höchstens noch Fußbälle durch die Luft, statt hunderttausender im Takt klatschender Hände sorgen nur klappernde Skateboards für den Sound der Stunde. Ein Besuch auf heiligem Rock’n’Roll-Grund.
Man muss mal hier gewesen sein, um es mit eigenen Augen gesehen, mit allen Sinnen gefühlt zu haben: Hier ist nichts. Nichts, was irgendwie daran erinnert, dass hier mehr als einmal hunderttausende Menschen zu den Songs der größten Rockstars aller Zeiten gefeiert haben. Wenn hier heute ein Wind über das gewaltige Areal an der Rennbahnstraße in Weißensee fegt, dann trägt er nicht die Klänge einer Rockrevolution in die Welt, sondern weht höchstens ein paar alte Plastiktüten übers Gelände. Selbst die Kette am rostigen Tor ist zu träge, um zu klappern.
Vier Stunden spielte Springsteen für seine Fans
Was für ein Kontrast dazu muss jener 19. Juli 1988 gewesen sein, als die Radrennbahn vor Leben bebte. Es gibt eine Luftaufnahme von diesem Tag, die ein gewaltiges Menschenmeer da zeigt, wo heute viel Brache liegt und ein paar versprengte Sportstätten. Rock-Superstar Bruce Springsteen spielte damals das größte Konzert in der Geschichte der DDR. Genau hier. 100.000 Tickets gingen für die Show in den Vorverkauf, am Ende standen aber wohl mehr als 160.000 Menschen vor der Bühne, manche Quellen sprechen sogar von 300.000. Über vier Stunden spielte Springsteen für seine Fans aus der DDR, mehr als 30 Songs standen auf der Setlist. „Mehr als 160.000 Ostdeutsche waren zur Stelle. […] Vor mir auf einem offenen Feld stand die größte Menschenmenge, die ich je gesehen und für die ich je gespielt hatte. […] Das Ende der wogenden Menge war von der Bühne aus nicht zu erkennen“, erinnert sich Springsteen knapp 30 Jahre später in seiner Autobiographie „Born to run“ an den Sommerabend in Weißensee.
Dem „Boss“ ging es in Weißensee um mehr alsMusik: „Es ist schön, in Ost-Berlin zu sein“, setzte der Sänger schon im ersten Drittel seines Mega-Konzertes auf Deutsch an. „Ich bin nicht für oder gegen eine Regierung, ich bin gekommen, um Rock ’n‘ Roll für euch zu spielen, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden.“ Ursprünglich wollte Springsteen „Mauern“ abgerissen sehen, hatte seine Ansprache auf Drängen seines Managements aber noch entschärft. Die Botschaft kam dennoch an, aus vielen hunderttausend Kehlen erscholl Jubel. Spätestens jetzt war die Rockshow auf der Radrennbahn zur Messe geworden und man muss nicht allzu pathetisch sein, wenn man behauptet: In Weißensee könnte an diesem Sommerabend eine der ersten Spitzhacken in die Berliner Mauer geschlagen worden sein, die ein gutes Jahr später tatsächlich fiel. „Es war die vielleicht kürzeste, mit Sicherheit aber die unterschätzteste Anti-Mauer-Rede, die je gehalten wurde“, schrieb der US-Journalist Erik Kirschbaum einst. Und der Musiker, der die Massen bewegte, hat das heute wieder leicht verschlafene Weißensee in bester Erinnerung: „Rock’n’Roll ist eine Musik, die etwas wagt und riskiert – und je höher der Einsatz, umso packender der Moment.“ Springsteen, der in seiner Karriere weit über 100 Millionen Tonträger verkauft hat, hatte einen seiner packendsten Momente dort, wo heute nichts mehr daran erinnert. Das muss man sich mal vorstellen.
Heute beherbergt die Radrennbahn nur noch kleine Sportanlagen
Ob Mick Jagger 1990 seine Rolling Stones auch ohne Mauerfall in den ehemaligen Ostteil der geteilten Stadt geführt hätte? Im August suchten die Superstars „Satisfaction“ in der DDR – natürlich auf der Radrennbahn in Weißensee, mit einer gigantischen Bühnenkonstruktion. Vor dem 80 Meter breiten Koloss hatten sich rund 50.000 zumeist DDR-Bürger versammelt. Und die Stones ließen sich nicht lumpen, Feuerfontänen schossen in die Luft und Mick und Co. lieferten ihrerseits über 140 Minuten ein Rock-Feuerwerk ab. Weißensee erzitterte, aber die Zeit der großen Konzerte ging langsam zu Ende, dort, wo einst der „Boss“ an der Mauer rüttelte und wo heute nur noch Betonreste die Geschichten von damals erzählen könnten. Knapp zwei Wochen nach den Stones gab sich noch einmal die versammelte internationale Rock-Elite ein Abschiedskonzert: Tina Turner, Chris de Burgh, die Simple Minds, Gianna Nannini, Peter Maffay und andere kamen zum zweitägigen Open-Air-Festival, das Teil einer Festivaltour war. Und das Eventshirt wirkt heute beinahe so von der Zeit überholt wie das Gelände selbst: Die Toten Hosen wurden da als Teil des Line-ups angekündigt – aber „nur in der DDR“.
Die letzten Töne sind auf der Radrennbahn Weißensee also schon lange verklungen, das Areal beherbergt heute nur noch diverse kleine Sportanlagen. Rollhockey statt Rolling Stones, Skateboard statt Springsteen, tote Hose statt Tote Hosen. Ende der 1990er wurde schließlich das letzte bisschen Radrennbahn abgebaut, zurück blieb ein Stück Land ohne Identität, teils zugewuchert, teils brach liegend. Ein Event gibt es aber noch, zu dem die Massen Jahr für Jahr auf das legendäre Areal strömen: Im Dezember startet hier der Weihnachtsbaumverkauf. Und wenn man die Nordmanntanne der Wahl begutachtet, denkt man manchmal: Der „Boss“ rockte hier einmal mehr Menschen, als der Baum Nadeln hat. Und ob Mick wohl irgendwann noch einmal mit den Jungs vorbei schaut? Der 156er fährt vorbei und niemand ahnt etwas von damals.