Es klingt ein bisschen wie die Geschichte aus dem zauberhaften 80er Jahre-Film Das Wunder in der 8. Straße. Hier sollen die Bewohner eines alten Hauses in New York zum Auszug bewegt werden, da die gesamte Fläche neu bebaut werden soll. Das alte, zerfallene Haus, das dort ganz alleine steht und endlich weg soll, kann dann mithilfe kleiner, fliegender Untertassen gerettet werden. Ganz so spektakulär geht es in der Heidestraße in Mitte nicht zu, aber Ähnlichkeiten sind rein zufällig vorhanden.
Vor einem Jahr wurde der Grundstein für die Wasserstadt Mitte am Nordhafen gelegt. Hier sollen neben Büros und Passagen unter anderem auch Luxus-Wohnungen gebaut werden, 2019 sollen die ersten Mieter einziehen können. Besonders charmant wirkt die Baustelle noch nicht – bis plötzlich, mitten zwischen den Kränen und Bauzäunen, ein altes, mit Graffiti besprühtes, baufälliges Haus auftaucht, das aussieht, als hätte es sich in seiner abgewetzten Kleidung verlaufen.
Wie ein Technoschuppen aus der Wendezeit
Ich besuche zum ersten Mal ein Konzert im Kornversuchsspeicher, einem denkmalgeschützten Backsteinbau aus dem Jahr 1898. Er sieht aus wie einer dieser Technoschuppen aus der Wendezeit, er passt so gar nicht in diese moderne Vision eines Berlins, das hier entstehen soll.
Die Geschichte des Kornversuchsspeichers ist hochinteressant. Das historische Gebäude auf sechs Etagen wurde seinerzeit oft belächelt. Warum so ein großes Haus bauen, nur um Getreide auf seine Qualität zu prüfen? Da allerdings als Folge die Sterberate der Menschen, die sich an schlechtem Brot vergifteten, sich bald halbierte, wurde dieses Konzept in ganz Europa kopiert und erwies sich damit als absolutes Erfolgsmodell.
Die Atmosphäre ist heute wundervoll! Wild, unsaniert, chaotisch, bunt. Kunst an den Wänden, raue Betonwände, im Grunde könnte man alles so lassen, wie es ist. Authentisch und mit dem Geist eines Berlins, das ich mit Clubs wie zum Beispiel dem ehemaligen Tacheles in der Oranienburger Straße verbinde.
Begegnungsstätte für Kulturbegeisterte
Nach den Plänen der Architekten soll das Gebäude allerdings umgestaltet werden. Gastronomie im Erdgeschoss, darüber Büros. Hach, so schön, dieses Haus jetzt so erleben zu können, wie es ist. Eine Begegnungsstätte für Kulturbegeisterte, Paradiesvögel, Kreative. Solange gebaut wird, arbeiten hier Künstler, stellen aus, geben Konzerte. Überall an den Wänden hängen Bilder, in den Räumen stehen Skulpturen, eine Magie herrscht hier, die sich atmen, sehen und fühlen lässt. Das Konzert, das ich an diesem Abend besuche, ist eins der schönsten seit langem, obwohl ich vorher nicht wirklich weiß, was mich erwartet, nur, dass einer auf der Geige spielt.
Dieser eine heißt Iskandar Widjaja. Der 32-jährige Berliner mit indonesischen, arabischen, holländischen und chinesischen Wurzeln spielt um sein Leben, und so wunderschön, dass es mir das Herz zerreißt – auf die gute Art. Er spielt Christian Sinding, Camille Saint-Saens und Bach. Widjaja erzählt seinen Zuschauern, Bach wäre seine Religion. Wenn er Bach auch nur für sich spielt, sagt er, ist danach alles immer gut. Und für das Publikum, das im wahrsten Sinne des Wortes vor Begeisterung tost, ist es das auch. Der Künstler behandelt seine Violine so, wie eine Frau behandelt werden möchte. Mit einer Mischung aus Respekt, Vergötterung und Leidenschaft. Himmel, wie er beim Spielen schnauft, man möchte meinen, das Konzert sei ein Liebesspiel, und so sehr, wie er von der Musik schwärmt, ist es das vielleicht auch. Ich sehe mich beim Hören auf einer wilden Wiese, umringt von tausend Schmetterlingen, weißes Kleid, Wind im Haar. Märchenhaft. Am 7. September erscheint seine neue CD Mercy und am selben Tag tritt er damit im Haubentaucher auf. Absolut empfehlenswert!
Dieser Abend im Kornversuchsspeicher wird mir lange im Gedächtnis bleiben, vor allem, weil die Idee, auf einer Baustelle so eine schöne Kulturstätte entstehen zu lassen, so toll ist. Berlin ist mal wieder meine Lieblingsstadt – ich hoffe, dass der Kornversuchsspeicher weiterhin, nach einer kleinen Sommerpause, Anlaufstelle sein darf für die Kreativen, die Wilden, die Inspirierten!