Zumindest die Namen ihrer Verlängerungen, Chausseestraße und Friedrichstraße, haben auch überregional einen guten Klang. Unter dem Asphalt befördert die U-Bahn Pendler und Touristen in die City und wieder heraus. An der Seestraße und am Leopoldplatz ist zu jeder Tageszeit etwas los, und auch diese Kreuzungen liegen an der Müllerstraße. Verschwunden sind die Windmühlen, die ihr den etwas banal klingenden Namen gaben. Aber auch die Zeiten, in denen Tausende hier auf dem „Ku’damm des Nordens“ entlangbummelten und einkauften, sind längst vorbei. Fachgeschäfte und Kaufhäuser boten bis in die 1990er Jahre das, was heute die Shoppingcenter am Gesundbrunnen und in Tegel verkaufen. Die Kaufkraft ist natürlich von Weddings Einkaufsmeile in die Konsumtempel mit abgewandert. Die Müllerstraße könnte höchstens mit einigen Nischen punkten.
Als sich ständig wandelnde Einkaufsstraße unter freiem Himmel, zumal mit tosendem Verkehr, ist sie um Längen urbaner als Einkaufszentren, die überall auf der Welt gleich aussehen. In die meist nicht lange leer stehenden Geschäfte mit früher klangvollen Namen sind viele türkische Spezialitätenläden, aber auch Spielcasinos und Ein-Euro-Geschäfte gezogen. Sogar C&A hat seine Pforten geschlossen – ein großer türkischer Gemüsehändler hat die Ladenfläche eingenommen. Einige wenige „Leuchttürme“ sind aber geblieben, darunter die H&M und die Karstadt-Filiale direkt am Leopoldplatz.
Ganz unten: die südliche Müllerstraße
Da geht in der Häuserfront die in rheinischer Romanik gestaltete St. Josephkirche, neben der Zentrale der Berliner SPD, beinahe unter. Das gegenüber liegende Jobcenter, ein schöner 50er-Jahre-Bau, ist da ein wesentlich markanteres Gebäude. Jahrelang war es das Hintergrundbild, wenn in der Tagesschau über Arbeitsmarktzahlen berichtet wurde. Aber sonst: Viel ist im Zweiten Weltkrieg von der gründerzeitlichen Bebauung nicht stehengeblieben.
Zwei Kirchen am Leo
Der Abschnitt zwischen dem Leopoldplatz und der Seestraße ist unbestritten das lebendigste Teilstück der Straße. Viele Geschäfte, ein kleines Einkaufszentrum und einige bekannte Filialisten – von denen einer nur zufällig „Drogerie Müller“ heißt – prägen hier das äußerst urbane Bild. An der fast 90 Meter breiten Seestraße kreuzt nicht nur der zur Autobahn führende Straßenring um die Innenstadt, sondern auch die bislang einzige Straßenbahnstrecke im alten West-Berlin. Hier befindet sich auch das Traditionskino des Wedding, das Alhambra, heute ein modernes Multiplex-Filmtheater. Auf gut 100 Jahre Kinogeschichte kann die Ecke zurückblicken.
Eine Straße als Sanierungsfall
Auch der oberflächliche Besucher von Weddings Haupteinkaufsstraße merkt schnell: Der Lack ist ab. Die Müllerstraße hat zwar eine fantastische Lage in der nördlichen Innenstadt, verfügt über eine herausragend gute Verkehrsanbindung in Autobahnnähe, mehrere U-Bahn-, Straßenbahn- und Buslinien. Jedoch ist es dringend an der Zeit, die Attraktivität der Straße zu erhöhen. Mit dem Programm „Aktives Zentrum Müllerstraße“ versuchen der Bund und das Land zu retten, was zu retten ist.
Seit 2011 ist die Müllerstraße Berlins größtes Sanierungsgebiet. Jetzt heißt es wegkommen von der 1970er-Jahre-Optik mit sperrigen Geländern in der betongesäumten Straßenmitte, Zementkübeln auf dem Gehweg und den plumpen Peitschenlampen. Ein Geschäftsstraßenmanagement versucht, die verbliebenen Einzelhändler miteinander zu vernetzen und Entwicklungen in Richtung Aufwärtstrend zu steuern. Radspuren sollen den Oberflächenverkehr entzerren, während die Gehsteige mit einer attraktiveren Gestaltung zur Erhöhung der „Verweildauer“ potenzieller Kunden einladen sollen. Dass sich auch die Schaufenster wieder mit attraktiven Waren füllen, kann aber auch das beste Management nicht erzwingen.
Im Norden geht die Müllerstraße auch bergab
In diesem Gebiet grenzt die Müllerstraße an ruhige Wohngebiete in Parknähe, die meist aus den 1920er Jahren stammen. Industrie sucht man hier vergeblich. Nur hinter dem Häuserblock Ungarn-, Edinburger, Türken- und Müllerstraße versteckt sich eine riesige U-Bahn-Hauptwerkstatt aus den 1920er Jahren. Einige hundert Meter weiter nördlich befindet sich zudem ein BVG-Busbetriebshof mit sehr origineller expressionistischer Architektur, die ehemalige „Straßenbahnstadt“.
Unbestritten ist die Funktion der Müllerstraße als Verkehrsschneise durch den Wedding. Sie wird – auch zum Einkaufen – immer noch gebraucht, aber richtig gerne hält man sich nicht an ihr auf. Das schmälert keineswegs die Attraktivität der unmittelbar angrenzenden Viertel. Das „Schmuddelkind“ Müllerstraße ist das verbindende Element der Weddinger Kieze geblieben. Aber sie steht nicht für das weddingtypische Lebensgefühl – das findet man eher, wenn man die Müllerstraße in eine ihrer Seitenstraßen verlässt.
Dieser Artikel wurde uns zur Verfügung gestellt von www.weddingweiser.de