Der M 29 fährt wieder die gewohnte Route, die Geschäfte haben geöffnet. Eine gute Woche nach dem Abrücken der Polizei ist in der Gegend um die Gerhart- Hauptmann-Schule so etwas wie Normalität eingekehrt. Allerdings ist der Zugang zur Schule jetzt mit einem Vorhängeschloss gesichert. Bullige Sicherheitskräfte überwachen, wer aufs Grundstück kommt. Sagen dürfen sie nichts. Nur so viel: Die Flüchtlinge hätten jetzt Hausausweise. Sie könnten frei ein- und ausgehen. Morgens halb zehn ist kein Flüchtling zu sehn.
Im libanesischen Imbiss „Nachtigall“ sei ein Drittel des Monatsumsatzes verloren, sagt Chef Mohamad Badran. Am zweiten Tag der Absperrung habe er aufgegeben, musste frische Lebensmittel wegwerfen und hatte dann acht Tage zu. „Das tut schon weh“, sagte Badran. Ein Polizist habe ihm geraten, seinen Umsatzausfall beim Bezirk geltend zu machen. Er überlege noch. „Die Unterlagen habe ich ja alle, denn fürs Finanzamt braucht man sie sowieso“, so Badran.
Man fragte sich: Wozu?
Von den Flüchtlingen sind Anwohner und Gewerbetreibende überhaupt nicht genervt, überall im Kiez hängen Solidaritätsbekundungen von Balkonen herunter. Über den Polizeieinsatz ärgern sich allerdings viele. „Man hat sich die ganze Zeit gefragt: Wozu?“, berichtet etwa Lydia Cehajic vom Friseur „Engelshaar und Teufelslocke“. Die 29-Jährige wohnt schräg gegenüber von ihrem Laden in der Ohlauer Straße. Besuch musste sie an der Absperrung abholen. Die meisten Kunden kamen nicht. Einziger Vorteil des Ganzen: „Es war so schön ruhig hier.“
Auch die Grünen sehen den Polizeieinsatz kritisch. In einem Rundbrief an die Anwohner haben die Bezirksgrünen gemeinsam mit den Abgeordnetenhausmitgliedern Dirk Behrendt und Antje Kapek geschildert, wie es dazu kam, und den Umfang des Einsatzes für „überzogen und inakzeptabel“ erklärt. Das „Agieren grüner Funktionsträger“ werde noch aufgearbeitet. Damit dürfte Stadtrat Hans Panhoff gemeint sein, der für seine grüne Politik zum ungrünen Mittel des Polizei-Einschaltens griff. In dem Brief wird Anwohnern auch angeboten, ihre Schäden per Mail unter einer dort genannten Adresse geltend zu machen. Es werde dann im Einzelfall geprüft, inwieweit der Bezirk den Schaden ersetzen könne.
Unter der Mail des Bezirks ist niemand erreichbar
„Ach ja, an diese Mail-Adresse habe ich auch geschrieben, am fünften Tag der Sperrung“, erinnert sich Frauke Manthey vom Café Cutie Pie in der Lausitzer Straße. „Da kam zurück, dass es den Server nicht gibt.“ Dann habe sie ans Bezirksamt geschrieben, dort waren alle Adressaten im Urlaub; Mails würden nicht weitergeleitet, hieß es. Endlich antwortete einer, er habe ihre Mail ans Ordnungsamt weitergeleitet. Seitdem habe sie nichts mehr gehört. Der Umsatz ihres Ladens habe nur ein Drittel des Üblichen betragen. Einkäufe habe sie zu Fuß ranschleppen müssen, und mit 20 Kilo Milch auf dem Arm sei sie durchsucht und befragt worden – eine „Schwachsinnsaktion“.
Darüber gehen die Meinungen allerdings in der Öffentlichkeit auseinander. Videos zeigen zum Teil brutales Vorgehen der Beamten; die wiederum fühlen sich durch Unterstützer der Flüchtlinge massiv behindert. Rund 80 Einsätze gab es in der Schule, seit sie besetzt wurde. Auch einige der Dealer, die am Görlitzer Park bei den ständigen Razzien gefasst werden, hätten als Wohnort die Schule angegeben, so die Polizei. Es laufen mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren. Wann immer man Spuren sichere, erschienen Unterstützer und behinderten die Arbeit der Polizei. Es werde dann Verstärkung angefordert, die nur dafür da sei, den Kollegen die Arbeit zu ermöglichen.
An diesem Morgen jedenfalls herrscht Ruhe in Kreuzberg. Der einzige Krach kommt von einem BSR-Mann mit elektrischem Rasenkantentrimmer. Er schneidet auf der Reichenberger Straße das Unkraut von den Baumscheiben. Abgeschnittenes Unkraut kommt wieder.