Die Nacht endet mit der Vormittagssonne, auf dem Weg zur nächsten U-Bahn brennen die Augen. Der Mund ist trocken, die Zunge rau, die Haare klebrig, das Shirt verschwitzt. Letzte Nacht war der DJ hochmotiviert, das Publikum ausgelassen, da haben die Leute gefeiert, die Bässe geballert, Alk und Stoff sowieso. Letzte Nacht war die geilste Clubnacht aller Zeiten. Mit diesem einzigartigen Gefühl fallen Generationen von Menschen aus den Clubs Berlins.
Eine unüberschaubare Armada an party- und/oder schreibfähigen Autoren hat Beiträge für das Buch verfasst – mal drei, mal dreizehn Seiten lang. Darunter Salomé von der ehemaligen Künstlergalerie am Moritzplatz; Jochen Arbeit, der Gitarrist der Einstürzenden Neubauten; Maximilian „WestBam“ Lenz; die Szene-Radardetektorin Jackie A.; Jürgen Laarmann, Mitglied bei den kurzlebigen Berlin Mitte Boys und Herausgeber des Szene-Magazins „Frontpage“; „Spiegel“-Redakteur Tobias Rapp; Autor und Blogger Airen (seine Beschreibungen Berliner Partynächte in „Strobo“ wurden durch Helene Hegemanns scheinbar plagiierte Stellen in „Axolotl Roadkill“ bekannt) und unzählige mehr. Ebenso groß die Liste der Fotografen, deren Bilder Einlass in den Band fanden.
Von Verstrahlten, Touristen und Kiez-Legenden
Und erst durch diese wird der Band wirklich lebendig. Zwar handelt es sich bei „Nachtleben Berlin“ um keinen klassischen Bildband – Text und Bild stehen sich oftmals ausgewogen gegenüber. Aber ohne die Ablichtungen schweißgebadeter Partypeople, heruntergekommener Rocker, vollkonzentrierter DJs, ohne die Bildgewalt von tanzenden Touristen, jungen Homosexuellen, alten Kiez-Legenden, verstrahlten Druffies, maskierten Transsexuellen und der Prominenz im Halbschatten der Disko wäre ein solches Buch zu distanziert, um es greifen zu können. Nach und nach tauchen sie alle auf: Die Ärzte, ganz jung, David Bowie und Joseph Beuys. Auf einem Bild lehnt Vincent Cassel auf einem Barhocker am Tresen. Von A bis Z hat man das Gefühl, jedem Zeitgeist, Partytypus und jeder Location, von ://about blank bis Zyankali Bar, in diesem Buch nachzuspüren.
Eine grobe Idee, was Berlin nachts ausmacht
Dabei ergibt sich nie ein Gesamtbild – wie könnte es auch in einer Stadt ohne zentralen Fixpunkt -, immer bleiben die Beiträge kaleidoskopisch, werden mit ihrer Blockschrift und den wilden Fotografien zu expressiven Erinnerungsstücken des jeweiligen Autoren, und ergeben zusammen eine grobe Idee, was Berlin nachts ausmacht. Nicht einmal bei der Zusammenstellung aller Clubs, die es seit den 70ern in Berlin gab und gibt, ganz am Ende, machen die Herausgeber den Fehler, ihr Buch zu einem ‚Tourist-guide-for-the-best-Party-in-town‘ werden zu lassen. Die findet man am besten selber raus; das Buch ist epochale Chronik, ein Band, der immer wieder zu zeigen vermag: So wie ich heute abfeiere, haben das schon ganz andere gemacht.
„Nachleben Berlin. 1974 bis heute“, herausgegeben von Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner. 24x29cm, gebunden, ca. 304 Seiten. Metrolit Verlag.