Nachtleben Berlin. 1974 bis heute

Die geilste Clubnacht aller Zeiten

Dance till you're dead! Berlin blickt auf eine Partykultur zurück, die umhaut.
Dance till you're dead! Berlin blickt auf eine Partykultur zurück, die umhaut.
Der Bildband "Nachtleben Berlin. 1974 bis heute" gibt mithilfe einer Reihe von Autoren Einblicke in die Berliner Partykultur der letzten vierzig Jahre. Entstanden ist gleichermaßen ein Bild- wie ein Essayband, der kaleidoskopisch die Zeiten entlang an verschiedene Orte hüpft und das Berliner Clubleben pointiert erfahrbar macht, ohne sich auch nur im entferntesten als Ratgeber-Literatur bloßzustellen.

Die Nacht endet mit der Vormittagssonne, auf dem Weg zur nächsten U-Bahn brennen die Augen. Der Mund ist trocken, die Zunge rau, die Haare klebrig, das Shirt verschwitzt. Letzte Nacht war der DJ hochmotiviert, das Publikum ausgelassen, da haben die Leute gefeiert, die Bässe geballert, Alk und Stoff sowieso. Letzte Nacht war die geilste Clubnacht aller Zeiten. Mit diesem einzigartigen Gefühl fallen Generationen von Menschen aus den Clubs Berlins.

Nun zu sagen, ein „Bildband“ beleuchte eben jenes titelgebende „Nachtleben Berlin. 1974 bis heute“, ist eine fahrlässige Untertreibung. Die Epik, mit der das Buch der Herausgeber Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner sich dem nächtlichen Treiben annimmt, ist überlebensgroß wie das Gefühl im Anschluss an eine ebensolche Nacht.

Eine unüberschaubare Armada an party- und/oder schreibfähigen Autoren hat Beiträge für das Buch verfasst – mal drei, mal dreizehn Seiten lang. Darunter Salomé von der ehemaligen Künstlergalerie am Moritzplatz; Jochen Arbeit, der Gitarrist der Einstürzenden Neubauten; Maximilian „WestBam“ Lenz; die Szene-Radardetektorin Jackie A.; Jürgen Laarmann, Mitglied bei den kurzlebigen Berlin Mitte Boys und Herausgeber des Szene-Magazins „Frontpage“; „Spiegel“-Redakteur Tobias Rapp; Autor und Blogger Airen (seine Beschreibungen Berliner Partynächte in „Strobo“ wurden durch Helene Hegemanns scheinbar plagiierte Stellen in „Axolotl Roadkill“ bekannt) und unzählige mehr. Ebenso groß die Liste der Fotografen, deren Bilder Einlass in den Band fanden.

Von Verstrahlten, Touristen und Kiez-Legenden

Und erst durch diese wird der Band wirklich lebendig. Zwar handelt es sich bei „Nachtleben Berlin“ um keinen klassischen Bildband – Text und Bild stehen sich oftmals ausgewogen gegenüber. Aber ohne die Ablichtungen schweißgebadeter Partypeople, heruntergekommener Rocker, vollkonzentrierter DJs, ohne die Bildgewalt von tanzenden Touristen, jungen Homosexuellen, alten Kiez-Legenden, verstrahlten Druffies, maskierten Transsexuellen und der Prominenz im Halbschatten der Disko wäre ein solches Buch zu distanziert, um es greifen zu können. Nach und nach tauchen sie alle auf: Die Ärzte, ganz jung, David Bowie und Joseph Beuys. Auf einem Bild lehnt Vincent Cassel auf einem Barhocker am Tresen. Von A bis Z hat man das Gefühl, jedem Zeitgeist, Partytypus und jeder Location, von ://about blank bis Zyankali Bar, in diesem Buch nachzuspüren.

„Nachtleben Berlin“ überspannt die Zeiten, beleuchtet die Punkkultur der Siebziger, die pillenschluckenden Techno-Jahre, jede Bewegung und Gegenbewegung von 1974 bis jetzt. Die Autoren erzählen von einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Ort. Die Interviews drehen sich mal um die Warschauer Brücke, mal um das SO 36. Hagen Liebing (ehemaliger Bassist der Ärzte) beschreibt den Vorbildcharakter Berlins seit den 1980er Jahren für den Rest der Partywelt. Auf den letzten Seiten gibt es Eindrücke von den Rough Rap Raves und eine letzte Interviewfrage: „Warum macht ihr eure Partys nicht einfach tagsüber?“ … „Es ist ein einmaliges Gefühl, wenn du vor den Boxen stehst und siehst, wie über den Gleisen die Sonne aufgeht“, sagt Eventorganisator Patrick Ludwig über die Open-Air Raves. Und man versteht.

Eine grobe Idee, was Berlin nachts ausmacht

Dabei ergibt sich nie ein Gesamtbild – wie könnte es auch in einer Stadt ohne zentralen Fixpunkt -, immer bleiben die Beiträge kaleidoskopisch, werden mit ihrer Blockschrift und den wilden Fotografien zu expressiven Erinnerungsstücken des jeweiligen Autoren, und ergeben zusammen eine grobe Idee, was Berlin nachts ausmacht. Nicht einmal bei der Zusammenstellung aller Clubs, die es seit den 70ern in Berlin gab und gibt, ganz am Ende, machen die Herausgeber den Fehler, ihr Buch zu einem ‚Tourist-guide-for-the-best-Party-in-town‘ werden zu lassen. Die findet man am besten selber raus; das Buch ist epochale Chronik, ein Band, der immer wieder zu zeigen vermag: So wie ich heute abfeiere, haben das schon ganz andere gemacht.

„Nachleben Berlin. 1974 bis heute“, herausgegeben von Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner. 24x29cm, gebunden, ca. 304 Seiten. Metrolit Verlag.

Die geilste Clubnacht aller Zeiten, Warschauer Brücke, 10243 Berlin

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