Kommentar

Kopf hoch, Brust raus: Wer darf in Berlin nackt sein?

Nackte Schaufensterfiguren
Was darf man(n) sehen? Brüste überfordern so manchen...
Berlin gibt sich gern weltoffen und frei. Drag Queens sind hier so selbstverständlich wie Kopftuchträgerinnen. Oder etwa doch nicht? Die neuen Zwänge sind auf jeden Fall nicht das, was frau sich wünscht. Ein Kommentar...

Ist etwas rechtens, nur weil es schon immer so war? Wohl kaum, doch der Berliner Senat setzt gegen die Freiheit einer Frau, sich zu (ent)kleiden, wie sie will, sogenannte Traditionen und angebliche Gewohnheiten. Wenn du also als Frau meinst, oben ohne in einem Berliner Freibad rumzuliegen, sei kein Ding, irrst du dich. Der Verzicht auf ein Bikini-Oberteil endete für eine junge Frau neulich am Plötzensee mit einem Rauswurf. Nur als Mann kannst du dir bei jeder Gelegenheit das T-Shirt vom Leib reißen. Und selbstverständlich darf die Brandenburger Polizei das Foto eines nackten Moped-Fahrers twittern, eine nackte Spaziergängerin auf dem Kudamm wird aus unserem Insta-Account aber wegen Anstößigkeit sofort gelöscht. Warum eigentlich?

Prüderie-Comeback

Hätten Männer vor hundert Jahren weiterhin gedacht, dass sie traditionell (und dadurch rechtmäßig) die freieren Menschen sind, dann dürften Frauen bis heute nicht wählen. Genauso dankbar müssen wir für die Belehrbarkeit der Herren in den späten 1950er Jahren sein, als wir Damen das Recht erhielten, arbeiten zu gehen – allerdings nur, wenn wir unsere hausfraulichen Pflichten dadurch nicht vernachlässigten… Letzteres ist heute zwar nicht mehr gesetzlich verankert, aber in vielen männlichen Köpfen zählen Putzen, Kochen und Kindererziehung nach wie vor zu den weiblichen To-Dos. Naja, wir müssen hier nicht alle historischen Schritte vom Führerschein für Frauen bis zur sexuellen Selbstbestimmung noch mal auflisten, aber irgendwie scheint die zäh fortschreitende Emanzipation plötzlich vermehrt durch patriarchalisches Gedankengut und ein Prüderie-Comeback zu stocken.

Tweet der polizei Brandenburg mit nacktem Moped-Fahrer

Polizei Brandenburg auf Twitter

 

Männerbrüste sind nicht immer schön

Lassen wir das ästhetische Pro-und-Kontra mal beiseite und verschwenden auch keine Zeit damit, über die körperliche Schwachstellen-Präsentationen von männlichen Mitbürgern in der Öffentlichkeit zu nörgeln, und kommen direkt auf den Punkt: Nippelalarm gilt nur für Frauen. Das ist total unfair. Vor allem, weil wir Frauen einsehen sollen, dass die armen Männer mit unseren Brüsten grundsätzlich unzüchtige Gedanken verbinden. Also dürfen stillende Mütter in Cafés angepöbelt, Oben-Ohne-Sonnenanbeterinnen aus Berliner Bäder geschmissen und sexy gekleidete Frauen als williges Fleisch behandelt werden? Gegensätzliche Extreme sind natürlich auch nicht gewünscht: Kopftücher befremden, Burkas gehören verboten und Frauen, die Haare an den Beinen und unter den Achseln haben, sollten sich schämen. Drag Queens werden nicht im Alltag, sondern nur auf Bühnen geschätzt und Transsexuelle als Fake-Frauen diffamiert. Überhaupt läuft alles wieder darauf hinaus, dass der weiße, spießige Mittelständler bestimmt, wie die (weibliche) Welt auszusehen hat.

Wunschliste

Wenn wir auch mal Wünsche äußern dürfen: Wir möchten nicht, dass Jungs ihre Oberkörper auf dem Fahrrad freilegen. Wir möchten auch nicht, dass schwitzige Typen beim Outdoor-Training auf Shirts verzichten. Wir möchten nicht, dass Herren in Shorts die Beine spreizen. Wir möchten nicht, dass Männer in Freibädern Tangas oder zu kleine Badehosen tragen… Aber hinter all diesem Verhalten stecken bestimmt schützenswerte Traditionen. Wie auch immer: Als tolerante Frauen käme es uns nie in den Sinn, diese Wünsche dem anderen Geschlecht zur Vorschrift zu machen.

Mittelalter oder Moderne

Beim Berliner Senat hat übrigens ein Freier(!) Demokrat die Stimme für Oben-Ohne-Frauen und gegen Sittenwächter erhoben. Allerdings glaubt dieser Politiker, dass nur eine lautstarke, migrationshintergründige Minderheit für die Rückläufigkeit der Gleichberechtigung verantwortlich sei. Wir denken das nicht: Jüngst hat #MeToo gezeigt, dass der Alltag von Frauen noch viel zu häufig diskriminierend und sexuell erniedrigend gestaltet wird und das ganz sicher nicht nur von Neu-Berlinern aus aller Welt mit anderem kulturellen Background. Entspannt euch doch einfach alle! Das Mittelalter liegt hinter uns, die Gegenwart hat gleichberechtigtes Zukunftspotential und mehr als die Hälfte der Menschen in Berlin sind weiblich, da dürfte es leicht fallen, sich an den Anblick von Frauen-Brüsten zu gewöhnen. (.)(.)

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