„Sie sind ein Botschafter für Neukölln.“ Wenn Reinhold Steinle das zu hören bekommt, zieht ein Lächeln über sein Gesicht. „Das ist für mich das schönste Lob“, sagt der 58-Jährige. Seit fast neun Jahren bietet der gebürtige Schwabe und „gefühlte Berliner“ Stadtteilführungen in Neukölln an. Noch nie in seinem Leben hat er beruflich etwas so lange gemacht. „Dann muss es wohl Spaß machen“, sinniert er. Und mit unüberhörbar schwäbischem Singsang in der Stimme fügt er hinzu: „Neukölln ist meine Leidenschaft“.
Der Mann mit der Ledertasche und der Plastik-Gerbera
U-Bahn-Station Boddinstraße. Ein Sonnabend, kurz vor 14 Uhr. Auf dem Bürgersteig hat sich eine Menschentraube gebildet. Aus ihrer Mitte ragt eine knallrote Plastik-Gerbera empor – das Erkennungszeichen von Reinhold Steinle. Ob jemand am Nachmittag noch etwas vorhabe, fragt er. Nein? Gut so. Denn die 90 Minuten, die seine Führungen offiziell dauern, hat er noch nie eingehalten. Fünf verschiedene Touren hat der Mann mit dem rosa Oberhemd und der bunten Krawatte im Programm. Die heutige geht durch den Schillerkiez, später noch kurz ins Rollbergviertel – wenn die Zeit reicht. Die meisten Teilnehmer der Tour sind ortskundig. Viele sind Zugezogene; Studenten, die ihren Eltern auf Berlin-Besuch zeigen wollen, dass Neukölln gar nicht so schlimm ist, wie es mancher Medienbericht suggeriert.
Steinle deutet auf das Straßenschild. „Der Hermann Boddin war so was wie Buschkowsky“, beginnt er zu erzählen. Dass Heinz Buschkowsky bis vor gut einem Jahr Bürgermeister von Neukölln war, muss er nicht erklären. „Den kennt doch jeder.“ Durch seine Bücher, die Talkshows im Fernsehen, in denen das damalige Bezirksoberhaupt das Prinzip Multi-Kulti für gescheitert erklärte. „Das Bild, das Buschkowsky gezeichnet hat, war für mich nie stimmig“, sagt Steinle. Neukölln als Ort, an dem man ständig Angst vor Verbrechen haben müsse, „das wird den Leuten hier nicht gerecht“. Steinle will zeigen, „was es an Positivem, was es für engagierte Menschen gibt.“ Und schon früher gab. Hermann Boddin sei so einer gewesen, von 1874 bis 1907 Bürgermeister von Rixdorf, wie Neukölln damals noch hieß.
Berüchtigt für seinen Wissensdurst
Die Gruppe hat gerade die Hermannstraße überquert, als der Kiezführer wieder die Gerbera in die Luft streckt. „Da, wo jetzt Woolworth drin ist, waren früher die Kindl-Festsäle“, erklärt er und holt laminierte Kopien alter Fotos aus seiner braunen Ledertasche. 1894 eröffnet, als „Bierschwemme“, mit Platz im Garten für 10.000 Leute. So viel stadtgeschichtliches Wissen hat er über die Jahre angesammelt, dass er bei jeder Führung mehrere Aktenordner dabei hat. Längst ist die Ledertasche zu klein, deshalb trägt er über der Schulter zusätzlich einen Stoffbeutel des Nord-Neuköllner Quartiersmanagements. Home sweet home ist in lila Buchstaben darauf gedruckt.
18 Jahre lang war der Schillerkiez Steinles sweet home. Bis neben ihm ein Technofan einzog. Steinle zog lieber aus als über Musikgeschmack zu streiten. Das war 2005. Drei Monate lang musste er damals Doppelmiete zahlen. „Weil keiner hier hin wollte in den Schillerkiez.“ Und das, obwohl das Viertel Anfang des 20. Jahrhunderts als Siedlung für reichere Leute angelegt worden war – mit breiter grüner Flaniermeile inmitten der Schillerpromenade, mit Wohnungen, die damals schon Innenklo hatten, Belle Etage und Stuckdecken. Betuchte Mieter anzuziehen, das habe um 1905 nicht funktioniert. Und 100 Jahre später auch nicht. „Das war eine tote Gegend.“
Jede Kiezführung eine Vorstellung und Neukölln als Bühne
Ein einziges Kiezcafé habe es Anfang der 2000er gegeben, ansonsten jede Menge Leerstand, schlechtes Image. Bis vor ein paar Jahren. Steinle ist sich sicher: „Heute würde man mich in einer Sänfte bis nach Baden-Württemberg tragen, um die Wohnung zu kriegen.“ Ein Satz wie von einem Kabarettisten. Ein Stück weit sieht sich Steinle auch so. Nach der Schulzeit machte er eine Lehre bei der Sparkasse Heilbronn, später arbeitete er „in einem Beruf, in dem man viel zuhören musste“. Irgendwann wollte er lieber, dass die Leute ihm zuhören. Deswegen wurde er Stadtteilführer, bisweilen tritt er im Theater auf. Aber eigentlich ist für ihn jede Kiezführung eine Vorstellung, ist Neukölln seine Bühne.
Mit der Tempelhofer Freiheit verändert sich der Kiez
Seit der Flughafen Tempelhof außer Betrieb ist und das an den Schillerkiez grenzende ehemalige Flugfeld offen, verändere sich der Kiez, beobachtet Steinle. Im Sommer ziehen junge Leute scharenweise auf die Tempelhofer Freiheit. Zum Grillen, zum Skaten. Oder um Gemüse anzupflanzen in den urbanen Gärten. „Leider bin ich nie von Tempelhof geflogen“, bedauert Steinle und lässt den Blick vom riesigen Areal über die angrenzenden Häuser schweifen. „Fünfstöckige Blockrandbebauung, geplant 1925 von Bruno Taut.“ Unbeliebte Wohnungen, als die Flugzeuge noch eine gefühlte Handbreit über den Dächern zur Landung ansetzten. „Inzwischen enorm begehrt, obwohl die Mieten kräftig angezogen haben.“ Ringsherum haben szenige Kneipen aufgemacht. Steinle deutet auf das Mama Kalo oder das Engels. Auch das persische Café gegenüber sei wegen der guten Küche empfehlenswert.
Steinle läuft weiter zur Genezarethkirche, „deren Turm wegen des Flughafens 1939 gekappt wurde“. Und 1948 noch ein Stück kürzer gemacht wurde, „wegen der Luftbrücke“. Nebenan sitzt ein Paar mit einem Latte Macchiato vor dem Café Selig. Der Pächter des Kirchencafés sei Muslim, Vermieter die evangelische Kirche. Steinle mag die Vielfalt im Kiez, schätzt die Offenheit. Er findet es gut, „dass was aufbricht“, dass junge Leute nach Neukölln kommen und den kleinen Läden ermöglichen zu überleben. Er freut sich, dass – ähnlich wie in Prenzlauer Berg – auch Schwaben nach Nord-Neukölln kommen. „Das war immer mein Traum, dass Schwaben hier mal Geld lassen.“
Stopp sagen, damit aus dem Kiez kein Disneyland wird
Aber er sieht die Gefahr, „dass der Kiez zum Pflaster für Spekulanten wird, dass es kippt ins Reiche und Schicke“. Am liebsten hätte er einen Zauberstab, dann würde er jetzt Stopp sagen.“Denn man will ja nicht durch ein Disneyland laufen.“ Steinle selbst kann sich nicht vorstellen, noch einmal in den Schillerkiez zu ziehen. „Dafür bin ich zu alt.“ Er liebäugelt mit Neuköllns Süden. Mit Britz. Wenn die Wohnungen da nur nicht so teuer wären. Noch in diesem Jahr will er mit einer neuen Führung an den Start gehen, einer Tour rund ums Rathaus. Und Führungen in anderen Bezirken? Steinle schüttelt vehement den Kopf. „Nein.“ Da hält er es dann doch mit Buschkowsky: „Im Herzen ist jeder Neuköllner.“
Mehr über Reinhold Steinle und seine Neukölln-Führungen findest du auf seiner Website.
Dieser Artikel ist Teil der „Berliner zeigen Ihre Stadt“-Serie von Berliner Akzente und ist dort zuerst erschienen.